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Glaube

Die ökologische Spiritualität des Christentums

14. November 2021

Was im Blick auf die Klimakrise viel zu wenig in den Fokus gerät ist, dass sie in ihrer Wurzel eine spirituelle Krise ist, eine Krise unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit und unserer inneren Motivation.

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BG Forggensee | Barocke Kirche St. Coloman, dahinter Schloss Neuschwanstein und der Berg...
Bild: picture-alliance/CHROMORANGE/W.-G. Allgoewer

Wenn man mich nach der heutigen Relevanz des Christentums fragt, kommt mir angesichts der Klimakrise seine ökologische Spiritualität in den Sinn. Das mag zunächst irritieren, ist doch kaum ein Vers der Bibel so umstritten - aber auch von seiner Aussageabsicht her auch so missverstanden - wie Gen 1,28: „Unterwerft euch die Erde und herrscht über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen.“

Tatsächlich sind die beiden hebräischen Verben kabasch und radah im Sinne von herrschen und unterwerfen zu verstehen, allerdings ist hier das Verhältnis Gottes zur Natur gemeint, an dem der Mensch bloß Anteil bekommt. Er herrscht nicht autonom oder gar autokratisch, sondern segnend und erhaltend über das, was Gott lediglich der Sorge des Menschen anvertraut hat. Er ist dazu gerufen, so immer mehr Gottes Ebenbild zu werden. Das Verb radah beschreibt biblisch das Verhältnis eines Hirten zu seiner Herde. Dieser leitet zwar die Herde, steht aber zugleich in engster Lebensgemeinschaft mit ihr und kann nur aus diesem Gespür heraus richtig entscheiden. Herrschaft impliziert echte Zuwendung.

Die Schlüsselkategorie lautet im Blick auf den Menschen „Verantwortung“, zu der er durch Gott gerufen ist. Nur in diesem Sinne ist der Mensch als Gottes Ebenbild Mitschöpfer. Gott segnet seine Schöpfung, und so ist auch der Mensch beauftragt, segnend zu wirken, was bedeutet, Leben wahrzunehmen und zu erhalten. In seiner Relevanz und praktischen Konsequenz ist das biblische Naturverständnis heute überhaupt erst vollumfänglich zu verstehen: Der Mensch hat wirklich Verantwortung für die Schöpfung und kann sich da nicht herausreden, da sein Verhalten den Fortbestand der Schöpfung ernstlich gefährdet.

Die an die Schöpfungsberichte anknüpfende Erzählung vom sogenannten Sündenfall erkennt die Grundproblematik des Menschen in der Grenzüberschreitung, also im Ausbruch aus dem von Gott gesetzten Ordnungsrahmen. Der Baum der Erkenntnis steht für den für das Wohlergehen der ganzen Schöpfung notwendige Respekt der von Gott gesetzten Grenze. Indem der Mensch diese überschreitet, gewinnen Tod und Gewalt Macht über die ganze Schöpfung. Sünde wird hier als Trennung von Gott und damit der allumfassenden Lebensquelle verstanden. Die Beziehung des Menschen zu sich, zur Natur und zu Gott ist seitdem gestört. Die fortlaufende biblische Geschichte beschreibt den Versuch und den bleibenden Aufruf, diese Entfremdung zu überwinden und das Beziehungsgeflecht wiederherzustellen.

Das Neue Testament erkennt in Jesus die Erfüllung der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Gottes- und damit Schöpfungsbeziehung: Jesus selbst lebt innerhalb eines vollendeten Dreierverhältnisses von Gott, Natur und Mensch. Im Sinne der jüdisch-alttestamentarischen Kulturkritik hinterfragt er jede Form von Absicherungsdenken. Er führt dies noch grundsätzlicher aus, indem er die Armen seligpreist und die, die nach äußerlichen Maßstäben im Leben zu kurz gekommen sind. Statt des Rechtes des Stärkeren gilt ein Recht des Schwächeren. Im Gleichnis von den Vögeln und den Lilien beschreibt er eine totale Freiheit durch die Übergabe an Gott, was für ihn der Inbegriff eines natürlichen Lebens ist. Der göttliche Geist geht allen materiellen Werten voraus und macht davon frei. Er ruft auf, in allem zuerst dieses Reich Gottes zu suchen, wie es in der ursprünglichen Schöpfung angelegt war, also diese natürliche Harmonie in der Gemeinschaft mit Gott und Schöpfung. Jede Form von Dominanz ist Jesus fremd. Jesus zeigt immer wieder die Würde der geschaffenen Natur auf und weiß um ihre Gefährdung durch die Anmaßung des Menschen.

Jesu Intention ist der Friede des Universums in der Versöhnung mit Gott - also ein universaler Frieden, der den ganzen Kosmos umfasst, im Sinne eines Dreiklangs von Liebe, Frieden und Universalität. Christliche Erlösungshoffnung bezieht sich auf die gesamte Natur. Das Reich Gottes ist allumfassend. Indem ich alles Geschaffene liebe, begreife ich das göttliche Geheimnis in allem. Der Geist einer des Evangeliums gemäßen Einfachheit und Kontemplation steht einem Verständnis der Natur als Objekt und Gegenstand der Bereicherung unvereinbar gegenüber. Nein, es geht um einen befreiten und geschwisterlichen Umgang!

Vor diesem Hintergrund stellt das neuzeitliche Weltbild eine kulturelle Verkürzung dar. Ein einfaches Leben ist aus der Perspektive des Evangeliums eine Forderung, die sich aus der Gerechtigkeit und dem Bedürfnis nach Teilhabe ergibt – das ist mehr als eine bloße Moral. Es geht um nichts Geringeres als den Aufbau einer neuen Zivilisation der Liebe, die aber nur gelingen kann, wenn der Mensch seine spirituellen Fähigkeiten in den Vordergrund stellt. Dann wird aus der Forderung eine Einladung, die die Lebensqualität spürbar verbessert.

Das lässt sich konkret erfahren. Als Pfarrer von 21 Gemeinden auf dem Lande besitze ich kein Auto, sondern bin bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs. Viele sagen, das sei unmöglich – für mich ist es ein positives und intensives Lebensgefühl, die Verbundenheit mit der Schöpfung bei Wind und Wetter zu erfahren. Ich glaube, dass es meine Lebenshaltung und meine Seelsorge prägt – allein schon die positive Entschleunigung, die mich auf das Unmittelbare und Nachhaltige schauen lässt. Ich versuche, aus dieser Erfahrung heraus Menschen zu begegnen und mit der strukturellen Überforderung, die meine berufliche Aufgabe mit sich bringt, umzugehen. Mehr als das, was Gott mir als Geschöpf mitgibt, kann ich nicht leisten.    

Meik Schirpenbach

 

Dr. Meik Schirpenbach, Jahrgang 1971, geboren und aufgewachsen in Leverkusen, seit 2017 Pfarrer in Grevenbroich am Niederrhein.