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Der Kinderraub der Nazis in Polen

Sabine Peschel
12. März 2020

Zehntausende Kinder wurden von den Nazis entführt und zwangsgermanisiert - und nach dem Krieg mit ihren Traumata allein gelassen. Jetzt berichten ein Buch und ein Film über das grausame Schicksal dieser Kinder.

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Zehn Passfotos von Kindern

Alodia Witaszeks leibliche Eltern sind noch am Leben, als das Mädchen verschleppt wird. Im Herbst 1943 kommt sie gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester zur Eindeutschung ins Jugendverwahrlager in Litzmannstadt, dem heutigen Łódź. Sie soll dort "germanisiert" werden. Polnisch dürfen die Schwestern im Lager nicht mehr sprechen. 

Organisierte Identitätsfälschung

Wie ihnen ergeht es unzähligen polnischen Kindern: Der organisierte Kinderraub war Teil der NS-Rassenpolitik, durch die "rassisch hochwertige" Kinder aus den annektierten Teilen Westpolens zu deutschen gemacht werden sollten. Die Jugendämter meldeten die Kinder, deren Aussehen sie für "arisch" hielten, Vertreter der Gesundheitsämter untersuchten sie medizinisch, danach kamen die herausgefilterten Kinder mit "gutem Blut" in ein Kinderheim, wo ihnen zwangsweise Deutsch beigebracht wurde und ihre Namen eingedeutscht wurden. Anschließend übernahm der SS-Verein Lebensborn die Verantwortung, übergab jüngere Kinder zur Adoption in SS-Familien, ältere in "deutsche Heimschulen". Immer mehr wurden die Kinder ihrer Erinnerung und ihrer Identität beraubt. und  auf diese Weise "germanisiert".

Alodia Witaszek mit einer Leidensgenossin an der Gedenkstätte am Gelände des ehemaligen Jugendverwahrlagers  im heutigen Łódź
Alodia Witaszek (links) an der Gedenkstätte am Gelände des ehemaligen Jugendverwahrlagers im heutigen Łódź, wo sie als Kind nach ihrer Entführung untergebracht warBild: DW/M. Sieradzka

Das Kinderraubprogramm war Teil der nationalsozialistischen Neuordnungspläne für das besetzte Europa. Im Juni 1941 erklärte SS-Reichsführer Heinrich Himmler, es gelte, "besonders gutrassige kleine Kinder polnischer Familien" zu erfassen. Doch nicht nur im besetzten Polen wurden Kinder gewaltsam aus ihren Familien gerissen. Auch in den besetzten Gebieten der Sowjetunion wurden Kinder entführt. Die Kinder von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wurden ihren Müttern weggenommen, manche in deutsche Familien weitergegeben, andere in Heimen gequält. In der Reichsschule für Volksdeutsche in Achern und im Lebensborn-Heim in Steinhöring gab es harte Strafen, wenn jemand weiter in seiner Muttersprache statt auf Deutsch redete: Hungern oder Einsperren im Keller gehörten dazu.

Mangelnde Aufarbeitung

75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Kinderraub der Nazis in Deutschland kaum aufgearbeitet, ein "weißer Fleck der Geschichtsschreibung", urteilt Artur Wróblewski. Der als Journalist für das polnische Web-Portal "interia" tätige Jurist und sechs weitere Journalistinnen und Historikerinnen sind dabei, das zu ändern. Ihr Buch über den nationalsozialistischen Kinderraub in Polen erschien 2018 in Krakau und im Februar 2020 auf Deutsch im Freiburger Herder Verlag. Die Autoren sind dem Schicksal von Menschen wie Alodia nachgegangen, Menschen, die am eigenen Leib erfahren mussten, wie der rassistische Größenwahn der Nationalsozialisten ihre Kindheit und oft das ganze Leben zerstört hat.

Fast alle Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die in dem Band "Als wäre ich allein auf der Welt" zu Wort kommen, berichten von der vielfach vergeblichen Suche nach ihren Familien, von der oft schmerzlichen Rückführung nach Polen nach dem Krieg – und von der weiteren Traumatisierung durch die Nicht-Anerkennung als Opfer.

Hermann Lüdeking sitzt auf einer Bank und wird gefilmt
Hermann Lüdeking bei den Filmaufnahmen in Bad DürrheimBild: DW/M. Sieradzka

Spurensuche von polnischen Journalistinnen

Die für deutsche und polnische Medien arbeitende Journalistin Monika Sieradzka und ihre MDR-Kollegin Elisabeth Lehmann sind bei ihrer Spurensuche noch weitergegangen. Nach jahrelanger Recherche haben sie für ihren Film "Kinderraub der Nazis. Die vergessenen Opfer" Betroffene aufgespürt, die bereit waren, vor der Kamera über ihr fragmentiertes Leben zu sprechen.

Hermann Lüdeking ist einer der Protagonisten, dem es bei seiner ausdauernden Suche nie gelungen ist, seine Wurzeln wiederzufinden. Als sechsjähriger Junge kam er in ein Heim und später als "wertvolles Material unter rassischen Gesichtspunkten" zur SS-Familie Lüdeking. Das einzige, was er durch sein hartnäckiges Graben in Archiven und Unterlagen herausfand, war sein ursprünglicher polnischer Name: Roman Roszatowski, genannt Romek. Die polnische Sprache hat Lüdeking, der in Süddeutschland aufwuchs und weiter dort lebt, längst vergessen.

Doppelte Traumatisierung

Geholfen hat ihm bei der Suche nach seinen Wurzeln der Verein "Geraubte Kinder – vergessene Opfer". Die Unterlagen von Lebensborn wurden nach dem Krieg, als der Verein in den Nürnberger Nachkriegsprozessen als karitativ eingestuft wurde, zerstört. Auch den lokalen Jugendämtern lag nichts an der Offenlegung der Identität der geraubten Kinder. Als einziger kämpft Hermann Lüdeking auch um die moralische Anerkennung als Opfer – bisher vergeblich. "Die Deutschen wollen davon nichts wissen, denn das würde Geld kosten", sagt der inzwischen 84-Jährige bitter. Und Monika Sieradzka stellt fest: "Bis heute fühlt sich Hermann alias Romek fremd in 'seinem' Land."

"Als wäre ich allein auf der Welt. Der nationalsozialistische Kinderraub in Polen", von Agnieszka Waś-Turecka, Ewelina Karpińska-Morek, Monika Sieradzka, Artur Wróblewski,Tomasz Majta und Michał Drzonek, Herder Verlag 2020, 368 Seiten. Das Buch entstand als gemeinsames Projekt des polnischen Internetportals intera und der Deutschen Welle.

"Kinderraub der Nazis. Die vergessenen Opfer": Der vom MDR und der DW produzierte Film von Elisabeth Lehmann und Monika Sieradzka wird in Deutschland und von der Deutschen Welle weltweit im Fernsehen gezeigt.  Im Interview spricht die polnische DW-Studioleiterin Warschau über ihre Recherche und das, was sie von den Opfern erfuhr.