1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Die Tragödie von Wolhynien ist immer noch eine offene Wunde"

14. Juli 2003

– Ukrainisch-polnische Aussöhnungserklärung von Leonid Kutschma und Aleksander Kwasniewski

https://p.dw.com/p/3rIV

Kiew, 11.7.2003, PRESIDENT.GOV.UA, ukrain.

PRESIDENT.GOV.UA, ukrain., 11.7.2003

Am 11. Juli haben sich der Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, und der Präsident der Republik Polen, Aleksander Kwasniewski, im Gebiet Wolhynien aufgehalten und an der Gedenkfeier anlässlich der tragischen Ereignisse in Wolhynien teilgenommen

Die Staatsoberhäupter nahmen an der Eröffnung der ukrainisch-polnischen Aussöhnungsstätte "Gedenken – Trauer – Einigung" teil, verlasen eine gemeinsame ukrainisch-polnische Erklärung und mauerten eine Kassette mit dem Wortlaut der Erklärung in das Fundament der Gedenkstätte ein.

Danach sprachen Leonid Kutschma und Aleksander Kwasniewski mit ukrainischen und polnischen Teilnehmern der Gedenkfeier anlässlich der tragischen Ereignisse in Wolhynien. Die Teilnehmer bedankten sich beim ukrainischen und polnischen Präsidenten für den von ihnen unternommenen Schritt. (MO)

PRESIDENT.GOV.UA, ukrain., 11.7.2003

Gemeinsame Erklärung des Präsidenten der Ukraine und des Präsidenten der Republik Polen "Über Aussöhnung am 60. Jahrestag der tragischen Ereignisse in Wolhynien":

Angesichts des strategischen Charakters der Partnerschaft zwischen beiden Staaten, ausgehend von den allgemeinen europäischen demokratischen Werten und Idealen, nach einem gemeinsamen Beitrag zum Aufbau eines neuen gemeinsamen Europas strebend, sich von den Bestimmungen der im Mai 1997 verabschiedeten Gemeinsamen Erklärung "Über Verständigung und Einigung" leiten lassend, vergessen die Ukraine und Polen schwierige und schmerzhafte Momente der gemeinsamen Vergangenheit nicht.

Die Jahrhunderte alte Geschichte der ukrainisch-polnischen Beziehungen hat viele rühmliche Seiten, aber auch viele tragische Ereignisse, die eine friedliche Koexistenz beider Völker behindern.

In den Erinnerungen der Ukrainer und Polen ist die Tragödie, zu der es in den Jahren 1943 und 1944 in Wolhynien, in der Region Chelm und Ostgalizien gekommen war, immer noch eine offene Wunde. Deren Bilder werden mit äußerst schmerzvollen Schicksalen der Nachkriegsgenerationen beider Völker in Zusammenhang gebracht.

Der damals bestehende Hass, die Vorurteile, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, falsche Ideologien, politische Sünden und veraltete Vorstellungen führten zu einer schrecklichen Tragödie, die Zehntausenden von Menschen das Leben kostete, Dörfer, Kirchen und Denkmäler in Schutt und Asche legte, unvorstellbares Leid brachte sowie triefen Schmerz und Misstrauen schuf.

Wir können diese Geschichte nicht ändern und auch nicht bestreiten. Wir können sie nicht verschweigen und nicht rechtfertigen. Wir müssen aber den Mut finden, die Wahrheit zu akzeptieren und das Verbrechen als solches zu bezeichnen, weil man nur mit Achtung der Wahrheit eine Zukunft aufbauen kann.

Von der Überzeugung ausgehend, dass die Veröffentlichung sogar schmerzhaftester Fakten aus unserer Vergangenheit die gutnachbarlichen ukrainisch-polnischen Beziehungen nicht beschädigen werden, und sich der tragischen Ereignisse in Wolhynien, der Region Chelm und in Ostgalizien bewusst, ehren der Präsident der Ukraine und der Präsident der Republik Polen im Namen des ukrainischen und polnischen Volkes die Opfer des blutigen Bruderkampfes und äußern deren Angehörigen ihr Mitgefühl. Die Präsidenten teilen den Schmerz der Familien der Opfer und halten es für notwendig, die gemeinsame Suche nach der historischen Wahrheit über die Tragödie in Wolhynien fortzusetzen und die Vollstrecker der Verbrechen gegen das ukrainische und polnische Volk öffentlich moralisch zu verurteilen. Die Präsidenten verurteilen entschieden und deutlich die Verbrechen, die in der Vergangenheit gegen unsere Völker verübt wurden, und äußern die tiefe Überzeugung, dass mit keiner Ideologie, keinen politischen Interessen und Abrechnungen für Unrecht vergangener Jahrzehnte die Verbrechen, die Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld und Racheakte in den Beziehungen zwischen den Völkern gerechtfertigt werden können. Die Präsidenten verurteilen das Vorgehen, das zu den Verbrechen und zur Vertreibung der ukrainischen und polnischen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs geführt hatte. Beide Völker hatten große Verluste. Besonders tragisch war das Schicksal der polnischen Bevölkerung in Wolhynien in den Jahren 1943 und 1944. Die Präsidenten unterstützen folgenden Aufruf von Papst Johannes Paul II. an das ukrainische und polnische Volk: "Die Zeit ist gekommen, sich von der schmerzhaften Vergangenheit zu befreien!... Die Vergebung – die erhaltene und gegebene – soll sich wie ein wohltuender Balsam in jedes Herz ergießen. Und dank der Reinigung der historischen Erinnerung werden alle bereit sein, dem Vorrang einzuräumen, was eint und nicht teilt, um gemeinsam die Zukunft aufzubauen, die auf gegenseitigem Respekt, brüderlicher Zusammenarbeit und wahrer Solidarität basiert."

Wir verneigen uns vor den Opfern der Verbrechen und aller tragischer Ereignisse, zu denen es in der gemeinsamen Geschichte gekommen war und wir äußern die Überzeugung, dass die gegenseitige Vergebung der erste Schritt zur vollen Aussöhnung zwischen den jungen Generationen der Ukrainer und Polen, die sich von den Vorurteilen der tragischen Vergangenheit befreien werden, sein wird. Wir schätzen und teilen jedes Wort, mit dem vergeben wird, aber auch das Wort, mit dem um Vergebung gebeten wird, wenn es von Herzen kommt.

Wir sind der Ansicht, dass die Konflikte der Vergangenheit das, was die Ukraine und Polen seit Jahrhunderten eint, nicht auslöschen können. Von diesem Ort, der in der Geschichte beider Völker einen tragischen Platz einnimmt, rufen wir dazu auf, die Beziehungen, die uns einen, noch enger zu gestalten. Man muss sich dessen bewusst sein, dass jeder, der diese Beziehungen zerreißen möchte, nicht nur gegen ein anderes Volk, sondern auch gegen sein eigenes handelt.

Heute sind wir der Wahrheit näher, einander näher – zusammen in einem vereinten Europa.

Leonid Kutschma, Aleksander Kwasniewski (MO)