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"Die meisten Täter kommen aus Vorstädten"

Greta Hamann17. Juli 2016

Wie kann man Attentate wie die von Nizza verhindern? Frankreich muss langfristig gegen die Radikalisierung von jungen Menschen vorgehen, so Dietmar Loch, Professor an der Universität in Lille, im DW-Interview.

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Polizisten vor dem Eiffelturm in Paris (Foto: picture-alliance/dpa/G. Horcajuelo)
Bild: picture-alliance/dpa/G. Horcajuelo

Deutsche Welle: Über den Attentäter von Nizza ist bisher nicht viel bekannt. Nur soviel: Der 31-Jährige Tunesier lebt seit zehn Jahren in Frankreich und soll sich in den letzten Wochen radikalisiert haben. Wie wahrscheinlich ist das Ihrer Meinung nach, dass ein Mann sich innerhalb so kurzer Zeit zu einer so schlimmen Tat entscheidet?

Die Kürze dieser Radikalisierungszeit ist nicht auszuschließen. In den meisten Fällen vollzieht sich der Prozess jedoch über einen längeren Zeitraum. Der übliche Werdegang ist eher wie bei den Attentätern der Anschläge in Paris 2015. Sie sind in Frankreich groß geworden, also Kinder der französischen Gesellschaft, die dann in bestimmten Momenten - oft bei Gefängnisaufenthalten - Kontakt zu Islamisten bekommen. Insofern ist der Fall in Nizza relativ neu.

Sie haben sich hauptsächlich mit den Problemen in den französischen Vorstädten beschäftigt, wo die Täter der letzten Terroranschläge in Paris und Brüssel zum Teil auch aufgewachsen sind. Der Attentäter von Nizza ist erst vor zehn Jahren nach Frankreich gekommen. Kann man gegen solche Täter überhaupt etwas ausrichten?

Es ist natürlich ein höchst komplexes Problem und auch die einzelnen Personen und Persönlichkeiten unterscheiden sich erheblich, es gibt verschiedene Muster.

Ich denke aber, dass es ein langfristiges Problem Frankreichs und nicht nur Frankreichs ist. Man muss trotzdem weiter an den Orten ansetzen, aus denen die meisten dieser Täter kommen, den sozial benachteiligten Vorstädten. Das heißt nicht, dass der militante Dschihadismus sich nur auf marginalisierte Menschen in ausgegrenzten Stadtvierteln begrenzen würde. Aber der Kern des Problems hängt doch mit diesen Vorstädten zusammen.

Promenade Nizza (Foto: DW/B. Riegert)
Nach dem Attentat geht das Leben in Nizza weiterBild: DW/B. Riegert

Die Probleme in den französischen Vorstädten sind seit über 30 Jahren bekannt. Allerdings gibt es Hypothesen, nach denen sich der Protest, den wir bei den gewalttätigen Jugendunruhen von 2005 in den französischen Vorstädten sahen, verändert hat. Die Menschen, die heute in Form terroristischer Attentate gewalttätig handeln, sind häufig gar nicht so stark religiös. Es ist weniger eine Radikalisierung des Islams, sondern eher eine Islamisierung der Radikalität. Radikalität im Sinne gewaltförmigen Protestes gibt es in den Vorstädten schon lange, als Protestform gegen die Ausgrenzung, gegen die Arbeitslosigkeit, gegen die sozialräumliche Diskriminierung, gegen die rassistische Diskriminierung.

Woher kommt diese Gewalt?

Der militante Dschihadismus ist quantitativ betrachtet ein marginales Problem, natürlich nicht in seiner pathologischen Einzigartigkeit und barbarischen Brutalität. Bei den Menschen, die sich radikalisieren, sind es oft Leute, die nichts mehr zu verlieren haben, weil sie über Jahre hinweg ausgegrenzt wurden. Was die Attentäter natürlich nicht entschuldigt. Jeder muss für die schrecklichen Taten, die er verübt, die Verantwortung übernehmen. Aber man muss auch das Problem verstehen.

Es sind auch nicht nur die Menschen, die aus absolut randständigen Gesellschaftsschichten kommen, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund, die eine Berufsausbildung gemacht haben, die relativ hoch qualifiziert sind und dann beispielsweise bei ihrem Bemühen, eine Stelle zu bekommen, diskriminiert werden. Da reagieren viele dieser Menschen empfindlicher.

Welchen Einfluss hat die städtische Struktur, auch speziell auf Nizza geschaut, wo der Attentäter des Anschlags vom 14. Juli ja lebte?

Die Diskriminierung und die anschließende Radikalisierung sind ein Problem, das mit städtischer Segregation einhergeht, also mit sozial benachteiligten Stadtteilen. Die gibt es in allen Großstädten in Europa, auch in Deutschland, wobei hier das Ausmaß geringer ist als in Frankreich. Aber die soziale Spaltung des Raumes, also den Unterschied zwischen reichen und armen Vierteln, gibt es überall.

Auch in Nizza gibt es Armenviertel, zum Teil mit unzumutbaren Lebensbedingungen. Auch, weil der geografische Raum hier besonders eingeengt ist. In Nizza spiegeln sich die sozialen Probleme in der Stadtstruktur genauso wider wie in Marseille, Lyon oder Paris.

Terror in Nizza - schon wieder Frankreich

Was muss in Frankreich passieren, damit dieser Unmut ausgegrenzter Personen sich in Zukunft nicht wieder in Radikalität verwandelt?

Da muss die politische Klasse in Frankreich auch sich selbst gegenüber ehrlicher werden. Man kennt die Probleme, man hat die Stadtpolitik in den letzten 30 Jahren entwickelt, aber es funktioniert immer noch nicht so richtig.

Man muss vor allem langfristig ansetzen. Das heißt man muss in die Stadtviertel gehen, in die Gefängnisse und in die Moscheen. Das bedeutet auch die Entwicklung einer bedürfnisgerechten Sozial- und Beschäftigungspolitik, welche die Menschen wieder in ihren Qualifikationen entsprechende Arbeitsverhältnisse bringt.

Zudem müssen auch politische Angebote gemacht werden, die glaubwürdig sind. Die Wahlenthaltung in Frankreich ist in den Vorstädten am größten. Man braucht demokratische Vorbilder und keine autoritären Sicherheitsmaßnahmen, die die Radikalisierung noch weiter vorantreiben. Da muss man ansetzen, das weiß man seit Langem und da besteht sicherlich auch ein Versäumnis der Politik.

Und nicht zuletzt muss man auch auf der ideologischen Ebene handeln. Man muss den Islamisten durch Aufklärung das Wasser abgraben. Den jungen Menschen zeigen, wohin dieser militante Dschihadismus am Ende führt. Es gibt bereits interessante Beispiele für derartige Deradikalisierungsprogramme. In Großbritannien gibt es beispielsweise Menschen, die zehn bis 20 Jahre in der islamistischen Szene waren. Heute engagieren sie sich in der Präventionsarbeit und versuchen in kommunal vernetzter Sozialarbeit und mit ihrem religiösen Wissen, gefährdete junge Menschen durch intensive Gespräche vom Dschihadismus abzubringen.

Dietmar Loch ist Professor für Soziologie an der Universität Lille. Er beschäftigt sich unter anderen mit den Themen Integration, Immigration und urbane Ausgrenzung.


Das Interview führte Greta Hamann.