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Die gelungene Flucht - Lesen im Gefängnis

30. Juni 2011

Im Gefängnis wird die Zeit zum Verhängnis. Einige Inhaftierte versuchen sie sinnvoll zu verbringen – mit Lesen. Dabei hilft ihnen die Buchfernleihe, das bundesweit einzigartige Projekt seit 25 Jahren.

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Foto: EPA/CIRO FUSCO
Bild: picture alliance/dpa

Ronald möchte fliehen – weg vom Alltag! Das klappt ganz gut mit dem Buch "Drachenläufer" von Khaled Hosseini. Der Roman entführt ihn nach Afghanistan ins Jahr 1975, in die spannende Welt von zwei Teenagern in Kabul. Die Verfilmung vom "Drachenläufer" hat er bereits gesehen. "Im Buch ist alles etwas tiefer beschrieben als im Film", sagt der 46-Jährige. In erster Linie gehe es ihm beim Lesen darum, "abzuschalten, in eine andere Welt zu flüchten".

Und doch bleibt Ronald da, wo er ist: in seiner Zelle im Dortmunder Gefängnis. Sieben Quadratmeter groß, ein Waschbecken mit Klo, ein Bett, ein Fernseher und vergittertes Fenster. Von der Außenwelt ist Ronald durch die schweren Türen des Gefängnisses getrennt.

Fernleihe ganz nah

Foto: DW/Olga Kapustina
Helga RömerBild: DW

Sechs Kilometer entfernt, ebenfalls in Dortmund, befindet sich die Bibliothek, von der Ronald seinen Lesestoff bekommt. Die Tür der grauen Lagerhalle ist offen. Eine Frau stöbert in den Kartons mit den Büchern, die überall im Flur stehen. "In ein paar Tagen sollen neue Spenden kommen. Ich muss hier deswegen ein bisschen Platz machen", sagt Helga Römer, Mitarbeiterin der Buch- und Medienfernleihe für Gefangene.

Die für ihre Leser interessanten Bücher legt Römer beiseite: Sie werden in die Bibliothek aufgenommen. Den Rest wird sie auf dem Flohmarkt verkaufen, um aus dem Erlös neue Bücher zu erwerben. "Zum Beispiel aktuelle juristische Literatur und Computerliteratur", sagt Römer. Die Fernleihe wird ausschließlich durch Spenden und Beiträge der Vereinsmitglieder finanziert.

Die langen Regale in der Lagerhalle sind voll mit Büchern. Über den Regalen hängen Schilder: "Strafvollzug", "Geschichte", Politik", "Technik", "Religion" - 24 Gruppen insgesamt, in die die Sachbücher aufgeteilt sind. Belletristik gibt es auch – auf Deutsch und in etlichen anderen Sprachen. Der Bestand der Fernleihe umfasst insgesamt 41.000 Titel. Pro Jahr leihen zweitausend Inhaftierte aus Deutschland und dem Ausland hier Bücher aus. Die Bibliothek ist ein spezialisiertes Ergänzungsangebot zu den Büchereien in den Gefängnissen selbst.

Foto: DW/Olga Kapustina
Im Flur der Buch- und Medienfernleihe für Gefangene und PatientenBild: DW

Action und historische Romane

Auch in der Justizvollzugsanstalt Dortmund gibt es eine Bücherei. Vor kurzem wurde sie renoviert. In dem hellen Raum riecht es nach Holz und Ölfarbe. "Am häufigsten werden bei uns Action, Krimis und historische Romane ausgeliehen", sagt Büchereibetreuerin Yvonne Glowa. In der Gefängnisbibliothek gibt es insgesamt viertausend Bücher.

Jeder Gefangene darf einmal in der Woche die Bücherei besuchen. Mehr als ein Drittel der Insassen der JVA Dortmund nimmt das Angebot wahr. Ronald ist auch dabei. Bevor er bei der Fernleihe wegen eines Buches anfragt, schaut er, ob es das vielleicht auch in der "heimischen" Bücherei gibt.

Gitter statt Sterne

Foto: DW/Olga Kapustina
Ronald beim LesenBild: DW

Seine Leidenschaft fürs Lesen hat Ronald überhaupt erst im Gefängnis entdeckt. Vor der Inhaftierung war er Kraftfahrer und Mitglied in einem Motorradclub. Dann passierte das, was sein Leben komplett verändert hat. "Ich habe gedacht, ich greife zu den Sternen. Aber ich habe in die verkehrte Richtung gegriffen…", sagt Ronald. Für den schweren Raub, den er begangen hat, muss er jetzt vier Jahre absitzen.

Am meisten vermisse er im Gefängnis die Freundschaft, meint Ronald. Seine Freundin und seine "Brüder", wie er die Mitglieder des Motorclubs nennt, kommen ihn zwar besuchen. Aber pro Monat sind nur zwei Besuche erlaubt. Deshalb ist für ihn die Post von der Buchfernleihe ein weiterer wichtiger Außenkontakt.

Nicht bezahlt, aber belohnt

Foto: DW/Olga Kapustina
Brief eines GefangenenBild: DW

"Jeder Buchsendung legen wir eine Postkarte bei", sagte Helga Römer. Die Bibliotheksmitarbeiter schreiben da "ein paar nette Worte" rein. Die Frage nach Verbrechen und Strafe, nach Schuld und Sühne beschäftigt Römer nicht. "Man versucht den Gefangenen zu helfen. Man weiß, sie sind in dieser Situation – und warum, das ist uns eigentlich egal."

Römer sagt, sie würde jedem helfen, der ein Buch lesen will, aber sich selbst keins besorgen kann. Sie könne sich nämlich ein Leben ohne Lesen gar nicht vorstellen. Seit 25 Jahren engagiert sich die Bibliothekarin mittlerweile bei der Fernleihe, eine Frau der ersten Stunde quasi. Bezahlt wird ihre Arbeit zwar nicht, belohnt allerdings schon – zum Beispiel mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland, die ihr verliehen wurde. Und mit unzähligen Dankesbriefen der Gefangenen.

Autorin: Olga Kapustina
Redaktion: Gabriela Schaaf