Die Geburtsstunde des Samba
26. November 2016Die Anfänge des Samba liegen im Haus der legendären "Tante" Ciata (1854-1924), einer bekannten Priesterin der afro-brasilianischen Religion Candomblé, die ursprünglich aus dem Bundeststaat Bahia im Nordosten Brasiliens kam. Hier, in einer ärmlichen Gegend im Zentrum Rio de Janeiros, trafen sich Schwarze, um "einen Samba zu spielen", wie man es Anfang des 20. Jahrhunderts nannte: man musizierte, feierte, tanzte.
Im Hinterhof von Tante Ciatas Haus fanden die – damals heimlichen – religiösen Zeremonien statt. Im Wohnzimmer spielten Musiker wie Pixinguinha "Choro", einen damals recht verbreiteten und salonfähigen Musikstil. Doch am unterhaltsamsten war es mit Abstand in der Küche: Sie war der Ort der Improvisation, der Spontanität, des Trommelns, kurz gesagt, des Sambas. Es gab dabei keine Partituren, keine Texte, nichts Festgeschriebenes: die Musik entstand spontan im Kollektiv. Ein oft wiederkehrender Refrain ging zum Beispiel so: "Ai, ai, ai/Junge, man muss den Kummer hinter sich lassen/Ai, ai, ai, dann sei eben traurig und du wirst sehen."
Einer der Stammgäste in Tante Ciatas Küche war der Musiker Ernesto Joaquim Maria dos Santos (1890-1974), der von allen nur Donga genannt wurde. Er war es, der einige Teile der so oft gesungenen Refrains nahm, ein paar neue Verse und eine Partitur hinzufügte, und so, zusammen mit dem Journalisten Mauro de Almeida, das erste Sambalied der Geschichte, "Pelo Telefone" (Am Telefon), schuf. Die spontane Eingebung, aus den Improvisationen ein richtiges Lied zu komponieren, konnte Donga sich später selbst nicht erklären.
Aber das war noch nicht alles: Noch unüblicher, gerade für die damalige Zeit, war, dass Donga den Song auch bei der Nationalbibliothek unter dem Genre "Samba" registrieren ließ – Samba war damals noch gar nicht als Musikstil bekannt. Das Datum dieser Registrierung, der 27. November 1916, gilt heute als dessen Geburtsstunde. Bis dahin nur unterhaltsamer Zeitvertreib zwischen den religiösen Kulten, wurde der Samba so offiziell zu einem eigenen Genre.
"Der große Verdienst von Donga war, dass er den künstlerischen und kommerziellen Wert der Musik in Ciatas Haus erkannt hat", findet Hugo Sukman, Kurator des Museums für Bild und Ton (MIS) in Rio de Janeiro. "Er hat gemerkt, dass diese improvisierte Musik mehr als nur Spaß war, man daraus richtige Lieder machen und Geld verdienen könnte."
Für den Komponisten und Schriftsteller Nei Lopes ist die Registrierungsurkunde von Donga und Mauro de Almeida tatsächlich so etwas wie die "Geburtsurkunde des Samba". Jedoch stellt er klar: "In Wahrheit war sie kein offizielles Dokument. Die eigentliche, legale Registrierung der Autoren wurde erst nachträglich, im Jahr 1973, durchgeführt. Nichtsdestotrotz wurden Donga und Mauru de Almeida damals als die Autoren von "Pelo Telefone" anerkannt. Das war besonders in einer Zeit, in der Songs noch wie Vögel in der Luft waren: wer sie zuerst fängt, darf sie behalten."
Experten sind sich heute uneinig, ob "Pelo Telefone" überhaupt wirklich ein Samba-Song ist, oder nicht doch eher dem Maxixe zuzurechnen ist, einem damals weit verbreiteten, dem Tango ähnlichen Musikstil. Der Samba, wie man ihn heute kennt, entstand erst zehn Jahre später, im Jahr 1927: mit "Se você jurar"" (Wenn du schwörst) von Ismael Silva und den Sambamusikern aus Estácio, einem weiteren Stadtteil Rio de Janeiros.
"Natürlich war es eher ein Maxixe-Song. Denn Samba gab es ja streng genommen noch gar nicht", bestätigt Luiz Fernando Vianna, Autor mehrerer Bücher über die brasilianische Musik. "Das Wort Samba zirkulierte zwar schon eine Weile, aber es war eher ein Synonym für Fest, Getrommel, Musik."
Allerdings, so ist man sich einig, spielt diese Frage keine große Rolle: Wichtig sei alleine, dass "Pelo Telefone" der erste als Samba registrierte Song war und im darauffolgenden Karneval enormen Erfolg hatte.
"Im Karneval von 1917 redeten die Leute von nichts anderem als von diesem Lied. Es war ein Riesenerfolg", so auch Sukman. Dies habe nicht nur dazu geführt, dass die Sambamusik von da an als Kunstform ernst genommen wurde, sondern auch ihre Geschichte verändert, den Samba auf ein anderes Level gehoben: "Bis dahin spielte man auf den Karnevalsumzügen einfach irgendeine Musik. Aber ab 1917 wurde der Samba zur Karnevalsmusik schlechthin, und Sambalieder wurden extra für den Karneval komponiert."
Trotz der Widersprüche hält Sukman den 27. November 1916 für ein bedeutendes Datum: "Und selbst wenn "Pelo Telefone" wirklich kein Sambalied war: Das ist dann zwar etwas komisch, aber eigentlich passt es gerade deshalb so gut zu Brasilien."