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"EU ist auf Türkei angewiesen"

Basak Özay 7. Oktober 2015

Die Flüchtlingskrise wird die EU und die Türkei einander näherbringen, meint Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er erwartet eine grundsätzliche Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik.

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Ein syrisches Flüchtlingskind im türkischen Lager Adana (Foto: Anadolo Agency)
Ein syrisches Flüchtlingskind im türkischen AdanaBild: picture-alliance/AA/I. Erikan

DW: Die EU-Kommission plant, in der Flüchtlingskrise mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Es sollen neue Lager in der Türkei eingerichtet werden, Ankara soll zusammen mit Griechenland die Außengrenzen der EU besser schützen. Wie schätzen Sie diese Pläne ein?

Steffen Angenendt: Bis jetzt ist es noch nicht richtig klar, welche Entscheidungen das genau sein werden. Aber der Wunsch der EU ist, dass die Türkei Lager einrichtet und noch mehr Flüchtlinge aufnimmt als bisher. In die Lager sollen diejenigen gebracht werden, die versuchen, illegal nach Griechenland überzusetzen. Dazu sind eben die gemeinsamen Grenzkontrollen mit Frontex gedacht. Soweit zeichnen sich schon die Pläne ab.

Doch viele Fragen sind noch ungeklärt: Zum Beispiel, ob die EU genügend Mittel zur Verfügung stellen wird, damit die Türkei diese Lager baut. Ankara erwartet offensichtlich, dass die EU sie finanziert und die Türkei sie organisiert. Und was verlangt die Türkei an weiteren Gegenleistungen? Ist die EU bereit, diese auch zu erbringen? Ich denke vor allem an den Wunsch der türkischen Seite, Visa-Erleichterungen zu bekommen.

Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (Foto: privat)
Steffen Angenendt: Türkei sieht Flüchtlinge als Gäste anBild: privat

Der türkische Präsident Erdogan wird in diesem Zusammenhang dafür kritisiert, die EU unter Druck zu setzen - und sogar zu erpressen. Teilen Sie diese Meinung?

Erdogan weiß genau, wie sehr die EU auf die Türkei als verlässlichen Partner angewiesen ist. Ich glaube, er braucht gar nicht viel zu drohen. Alle wissen, dass sie gut mit der Türkei zusammenarbeiten müssen. Das wird sicherlich auch die Diskussion über eine Annäherung der Türkei an die EU, vielleicht auch die Diskussion über eine EU-Mitgliedschaft beschleunigen.

Wird die Flüchtlingskrise die Türkei und die EU einander näherbringen?

Das glaube ich, denn die Türkei ist inzwischen der wichtigste Akteur in Bezug auf die aktuelle Krise. Man muss ihr eben auch entgegenkommen bei ihren Wünschen und Hoffnungen. Ich hoffe, dass diese enge Zusammenarbeit auch dazu genutzt werden kann, tatsächlich gute asylrechtliche Standards in der Türkei zu erreichen.

Schiebt die EU das Flüchtlingsproblem auf die Türkei, indem sie ihre Außengrenzen durch die Türkei kontrollieren lässt?

Zum Teil ist das der Fall, aber es fehlen die Alternativen. Die hohen Flüchtlingszahlen sind wirklich schwer zu bewältigen - bei allem guten Willen. Ich glaube, dass wir vor einer Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik stehen. In Zukunft werden die EU-Staaten voraussichtlich in diesen Lagern in der Türkei und anderen Nachbarstaaten eines Krisenlandes Flüchtlinge auswählen und diese dann nach Europa holen.

Ist die Freizügigkeit in der EU in Gefahr durch die Flüchtlingskrise?

Wenn keine gemeinsame Flüchtlingspolitik verfolgt wird, dann werden wir über kurz oder lang tatsächlich wieder dauerhafte Binnengrenzen haben. Das Schengener Abkommen wird dann seine Funktion verlieren, Mitgliedsstaaten werden dagegen verstoßen. Und das geht an den Kern der europäischen Integration und der EU. Entweder macht man eine gemeinsame Flüchtlingspolitik oder Schengen wird über kurz oder lang nur noch Makulatur sein.

Was sollte die EU tun, damit sich nicht so viele Menschen auf den Weg nach Europa machen?

Ganz wichtig ist die Unterstützung der Nachbarstaaten der Krisenländer: der Türkei, des Libanon und Jordaniens wegen des Syrien-Kriegs, aber auch vieler Staaten in Afrika im Hinblick auf dortige Konflikte. In den vergangenen Jahren kam jeweils am Jahresende die Nachricht von den großen internationalen Hilfsorganisationen, dass die nötigen finanziellen Mittel nicht eingegangen sind - und sie deshalb die Versorgung in Flüchtlingslagern reduzieren müssen. Das ist in diesem Jahr wieder der Fall. Die Versorgung der Flüchtlinge in diesen Aufnahmegebieten muss sichergestellt werden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Brüssel (Foto: Reuters)
Erdogan hat am Montag in Brüssel mit EU-Vertretern über die Flüchtlingskrise gesprochenBild: Reuters/F. Lenoir

Außerdem müssen diese Länder dabei unterstützt werden, selbst eine Asyl- und Integrationspolitik zu entwickeln. Denn in vielen Nachbarländern gehen Flüchtlingskinder nicht zur Schule und Erwachsene haben keine Arbeitsmöglichkeiten. Weil die Flüchtlinge dort keine Perspektive sehen, machen sie sich dann nach Europa auf. Die Türkei sieht Flüchtlinge als Gäste an, aber da muss es auf jeden Fall Angebote zur Integration geben.

Tut die Politik in den europäischen Aufnahmeländern genug, um die Flüchtlinge zu integrieren?

Die Politik ist immer noch sehr stark im Krisenmodus. Natürlich haben wir eine Krise in Deutschland und wenn man mit den Vertretern der Kommunen spricht, sieht man, wie riesengroß ihre Aufgabe ist. Trotzdem geht es oft eher um kurzfristige Bemühungen. Die wirklichen Herausforderungen werden erst mittelfristig kommen.

Denn es ist zu erwarten, dass viele dieser Menschen in Deutschland und in den anderen Aufnahmeländern bleiben, weil ihre Herkunftsländer zerstört sind. Und dann ist die große Frage eben die der Integration. Die Leute müssen irgendwann in die Arbeitsmärkte integriert werden, dafür werden Beschäftigungsprogramme nötig sein. Wenn die Integration nicht gelingt, droht wirklich eine Gefahr für den sozialen Frieden.

Dr. Steffen Angenendt leitet die Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zu seinen wichtigsten Forschungsgebieten gehören Migration und Entwicklungszusammenarbeit.

Das Gespräch führte Basak Özay.