Vancouvers dunkle Seite
12. Februar 2010Foster macht eine raumgreifende Geste. Irgendwo hier draussen werde er schlafen heute Nacht. Er sitzt auf einem Stück Styropor vor einer McDonalds-Filiale in der Thurlow Street in Vancouvers Vorzeigeviertel West End, am Bordstein. Männer mit Aktentaschen hasten vorbei am 45-jährigen "Streetsleeper", wie Obdachlose in Kanada bezeichnet werden, vorbei, um irgendwann mit einer der Spiegelfassaden zu verschmelzen. "Seitdem sich die Stadt für Olympia herausputzt, ist sie ein schlechterer Ort geworden", meint Foster. Es komme vor, dass die Polizei ihn verscheuche.
Foster, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist einer von mehreren tausend Obdachlosen in Vancouver, das vom Wirtschaftsmagazin "Economist" immer wieder als eine der lebenswertesten Städte weltweit gehypt wird – wegen der Sicherheitslage, des Kulturangebots, der Gesundheitsversorgung, der Infrastruktur. Genaue Zahlen über Streetsleeper gibt es nicht – die Angaben variieren je nach Quelle und Zählweise zwischen 1500 und 3000.
Rund ebenso viele Bewohner des Olympischen Dorfes in Vancouver, 2730 Athleten und Olympia-Offizielle, werden die 600.000-Einwohner-Stadt an der kanadischen Westküste während der Olympischen Winterspiele ab Freitagnacht ins weltweite Rampenlicht rücken. Dann soll sich die Stadt nach Vorstellung von Organisatoren und Politikern von ihrer Schokoladenseite zeigen.
Ein Monatsgehalt von der Gosse entfernt
Vancouvers dunkle Seite soll hingegen verborgen bleiben: Downtown Eastside. Einen Steinwurf vom historischen Stadtkern Gastown, entfernt blüht dort das Elend: Bucklige Gestalten durchforsten Mülleimer, ein Mann mit Kompressionstrümpfen schlurft in zwei verschiedenen Schuhen daher. Wer hier mobil ist, fährt Einkaufswagen oder Elektrorollstuhl. Der Gegensatz zu den glitzernden Büro- und Wohntürmen von Downtown West könnte nicht größer sein.
Die Gründe für sozialen Abstieg sind in Vancouver kaum andere als in anderen Metropolen: Drogensucht, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt. Und ins Astronomische gestiegene Mieten einer globalisierten "Traumstadt", in der viele nur "einen Gehaltscheque" von der Obdachlosigkeit entfernt sind, so ein fast schon geflügeltes Wort kritischer Beobachter.
Das Obdachlosenproblem hat die Stadt nicht erst seit gestern. Die soziale Abwärtsspirale dreht sich dem Journalisten Monte Paulsen zufolge seit dem Jahr 2000 verstärkt und traf das aufstrebende Vancouver besonders hart. Paulsen recherchiert für das Online-Magazin "The Tyee" seit Jahren zum Thema. Es gebe kaum noch so genannte "Single Room Occupancy"-Hotels, die einst als Winter-Domizile für Arbeiter errichtet und später als Unterkünfte für Obdachlose genutzt wurden. Die Hotels mussten schicken Eigentumswohnungen weichen. Doch irgendwo müssen die Verstoßenen bleiben.
Umstrittenes Gesetz
Konkrete Pläne, Obdachlose für einen makellosen Olympia-Auftritt zu verbannen – die gibt es nicht, so die offizielle Seite. Aber es gibt ein heftig umstrittenes Gesetz, das in der Provinz British Columbia kürzlich auf Treiben von Rich Coleman, Minister für Wohnungsbau und Sozialentwicklung, in Kraft gesetzt wurde. Die Polizei ist jetzt befugt, in kalten Nächten Obdachlose zu Notunterkünften zu bringen – auch gegen deren Willen. Dort zu bleiben, steht laut Gesetzestext den Betroffenen frei. "Das ist eine schreckliche Idee", empört sich Laura Track von der Pivot Legal Society, die sich als Non-Profit-Organisation für die Rechte der Ärmsten einsetzt. "Diese Gesetzgebung bedeutet eine Rückkehr zu den Landstreicher-Gesetzen des 19. Jahrhunderts, die Menschen kriminalisierte, nur weil sie arm waren und nicht wussten, wo sie bleiben konnten."
Der Journalist Paulsen vermutet eine Taktik der Einschüchterung frei nach dem Motto: Bleibt weg von den olympischen Einrichtungen, dann werdet ihr auch nicht eingesperrt.
Sozialminister Coleman verteidigte das Gesetz als Antwort auf einen tragischen Zwischenfall im vergangenen Winter und sagte, es helfe Leben retten: Eine Obdachlose in Vancouver war bei dem Versuch verbrannt, sich bei Kerzenlicht in ihrem zu einer Schlafgelegenheit umgebauten Einkaufswagen zu wärmen. Zuvor hatte sich die Frau aus Angst um ihre Habseligkeiten gesträubt, von der Polizei in eine Notunterkunft verfrachtet zu werden.
Die Sicherheitskräfte böten gerade in kalten Winternächten Schlafplätze oder warme Kleidung und Decken an. Den mindestens 1500 Obdachlosen stehen jedoch nur rund 700 Notplätze entgegen. Allein 2008 wurden laut Track Obdachlose in 40.000 Fällen wegen Überfüllung abgewiesen.
Kein landesweiter sozialer Wohnungsbau
Doch die Diskussion um Notunterkünfte geht am eigentlichen Thema vorbei. Denn was Obdachlose benötigen, ist nicht die Not-, sondern eine langfristige Lösung: ein Zuhause. "In den Notunterkünften besteht keinerlei Aussicht, sich von Sucht, Trauma oder psychischen Krankheiten zu erholen", sagt Journalist Paulsen. Für viele heißt das Zauberwort deshalb "sozialer Wohnungsbau". Doch anders als in anderen Industriestaaten des Commonwealth gebe es in Kanada schlicht kein entsprechendes Programm auf nationaler Ebene.
Um die Obdachlosigkeit in Vancouver abzuschaffen – so lautete im Jahre 2008 das Wahlkampfversprechen von Bürgermeister Gregor Robertson von der Lokalpartei "Vision Vancouver" –, müssten laut Paulsen drei Dinge gewährleistet sein: Dauerhafte Unterkünfte, medizinische Versorgung bei psychischer Krankheit oder Drogensucht und die Reintegration in die Gesellschaft. Das Vorhaben dürfte allein daran scheitern, dass viele Langzeitobdachlose gesellschaftlich derart entwurzelt sind, dass sie nicht mehr von der Straße weg wollen.
Anders als viele, für die auch das Leben auf der Straße zur verhängnisvollen Sucht geworden ist, hat Foster noch Visionen. Er würde gern einen Kurs besuchen, um seine Computerkenntnisse wieder auf Vordermann zu bringen. Gelänge es ihm – Vancouver würde für ihn zumindest ein Stückchen lebenswerter.
Autor: Stefan Robert Weißenborn
Redaktion: Sven Töniges