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Die Deutschen und der Sex

Marlis Schaum 28. Juni 2015

Sex ist heute überall. Nie zuvor wurde auch in Deutschland so viel und offen über ihn gesprochen. Die Sexualmoral hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg rasant verändert. Trotzdem gibt es noch Grenzen.

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Ein Paar küsst sich (Foto: Colourbox/Syda Productions)
Bild: Colourbox/Syda Productions

Es dauert heute keine 30 Sekunden und man ist mittendrin im Sex ohne ihn selber zu haben. Über Portale wie pornhub gibt es kostenlose Filmchen, die fein säuberlich nach Kategorien geordnet sind: "Lesbensex" oder "Sex im Freien". Vielleicht nicht in bester digitaler Qualität, aber: Sex.

Wer will, findet nackte Haut auch in Magazinen, in anspruchsvollen Filmen und in Talkshows. Es gibt in Deutschland heute eigentlich kein Thema mehr rund um Sex und anderen Zärtlichkeiten, das nicht öffentlich besprochen wird. Von Polygamie bis Bondage-Party, von Intim-Piercing bis MILF. Ganz ehrlich: warum auch nicht?

Beischlaf laut Gesetz bis Sex überall

Vor 60 Jahren hätte niemand das Wort "Sex" laut ausgesprochen. Sex war privat, aber selbst da irgendwie versteckt und lustbefreit. Der Bundesgerichtshof hat noch 1966 geurteilt, dass die Ehe von der Frau "die Gewährung des Beischlafs in Opferbereitschaft" fordere und es verbiete, "Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen."

Zwischen diesem Urteil und heute liegen gerade mal knapp 50 Jahre. Das ist so, als wäre die Sexualmoral in Deutschland auf Speed erwachsen geworden: von ehelichem Beischlaf laut Gesetz zu "50 Shades of Grey". Von Sex im Versteckten bis Sex überall – diesen Wandel macht eine Sonderausstellung im Haus der Geschichte in Bonn ziemlich schnell ziemlich deutlich.

Männer machen, Frauen folgen

Sexualmoral ist "der Umgang mit Sexualität, mit dem Körper und das Miteinander der Geschlechter", sagt Judith Kruse. Sie hat an der Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel" mitgearbeitet. Das Miteinander der Geschlechter und die Rollen von Mann und Frau waren im Deutschland der 1950er- und 1960er-Jahre noch sehr klar verteilt: der Mann sagt, was Sache ist, die Frau fügt sich.

Ehemänner durften bis 1958 noch entscheiden, ob ihre Frau arbeiten gehen oder den Führerschein machen darf. Er durfte ihr Vermögen verwalten und über die Namen und die Konfession der Kinder entscheiden. Frauen lebten teilweise in totaler finanzieller Abhängigkeit von ihren Männern.

Rollenverteilung und kleine Revolutionen

In diesem Jahrzehnt, in den 1950er-Jahren, beginnt die Ausstellung im Haus der Geschichte – und sie klappert alle wichtigen Bewegungen, Ereignisse und Einflüsse auf den Sex und die Geschlechter der kommenden Jahrzehnte ab, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern verändern: die Erfindung der Antibabypille, die Frauenbewegung, die Aufklärung, der Umgang mit Homosexuellen, mit Pornografie, Zensur und Prostitution.

Das alles in Videos, Bildern und Originaldokumenten. Dicht, bunt und nah dran. Bis ins Jahr 2013 – in dem laut einer Studie des Allensbach-Instituts immerhin 64 Prozent der deutschen Männer der Meinung sind, dass die Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland erreicht sei. 28 Prozent der Männer finden sogar, dass mit der Gleichberechtigung übertrieben werde.

Rainer Langhans und Uschi Obermaier 1969 (Foto: picture-alliance / united archives)
Rainer Langhans und Uschi Obermaier sprachen 1969 offen über ihre Beziehung in den Medien: eine sexuelle RevolutionBild: picture alliance / united archives

Sex öffentlich diskutieren? Aber nur den der anderen.

Sex kann in Deutschland heute weitgehend offen diskutiert werden. Denn die Ausstellung in Bonn zeigt auch, dass bei aller Offenheit längst noch nicht alles besprochen oder für den Einzelnen gelöst ist. Die Besucher trennen ganz klar zwischen Reden über Sex – und dem Sex im Privaten.

Eigentlich könne man heute relativ offen und über alles Sexuelle reden, sagen die meisten der Teenager, die sich unter regelmäßigen Kicherattacken durch die Ausstellung bewegen. Aber wenn es um den persönlichen Sex gehe, dann sei das doch "eher was Privates". "Ich rede nicht darüber, weil es keinen etwas angeht", sagt Marek. Er ist 15. Ein bisschen Privatsphäre müsse sein.

Ein bisschen Scham - muss sein?

Die Frage nach der Scham bleibt. Diesem Gefühl, das wie kaum ein anderes mit Intimität und Sex verbunden ist. Und das mit Fragezeichen über der ganzen Ausstellung steht: schamlos? Wie schamlos oder schambehaftet war und ist das Thema Sex in Deutschland noch? Das muss jeder für sich selber entscheiden.

Der deutsche Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann definiert Scham als etwas, "das entsteht, wenn etwas aufgedeckt wird, was man verbergen möchte." Sie ist "die Maske des Privaten und der Intimität par excellence." Scham habe, so schreibt er in seinem Buch "Schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist", etwas mit kulturellen Werten zu tun, sowohl individuell als auch gesellschaftlich: "Nur wer soziale und moralische Erwartungen an sich selber hat und sie nicht erfüllt, empfindet Scham."

Lampe in Form gestreckter Frauenbeine (Foto: Punctum/Bertram Kober)
Eine Lampe aus den 1950er-JahrenBild: Punctum/Bertram Kober/AUSSCHNITT

Schneller Wandel und bleibende Werte

Diese sozialen und moralischen Erwartungen gibt es rund um Sex in Deutschland heute immer noch, bestätigt eine Lehrerin, die zusammen mit Realschülern die Ausstellung in Bonn besichtigt. Sie glaubt, dass Kinder und Jugendliche heute oft falsch eingeschätzt werden: "Ich glaube schon, dass sie gewisse Wertvorstellungen haben und auch wissen, dass man mit manchen Dingen nicht in die Öffentlichkeit geht. Aber durch die ganzen Medien wird das ja heute alles offen publiziert, und die haben dann manchmal den Eindruck, sie müssten da mithalten, obwohl sie es vielleicht innen drin ganz anders sehen."

Im besten Fall, sagt wiederum Judith Kruse, die die Ausstellung mit organisiert hat, sollen Besucherinnen und Besucher hier sehen, dass sich die Sexualmoral in Deutschland in den vergangenen 60 Jahren stark gewandelt hat – und dass es dennoch Werte gebe, die auch heute noch gelten. Werte wie Liebe und Treue. Es sei wichtig über Sexualität zu reden und über die Entwicklung, die dieses Reden über Sexualität genommen habe: von einer Nicht-Aufklärung in den 1950er-Jahren bis hin zu einer sehr frühzeitigen Aufklärung.