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Deutscher unter Preußen

Oliver Samson6. November 2006

Der Boom lockt viele. Oliver Massmann ist keiner dieser Goldgräber der Globalisierung. Der Wirtschaftsjurist kennt hier alles und jeden - und verzweifelt an den zögerlichen Deutschen.

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Oliver Massmann
Oliver MassmannBild: DW/Samson

Wenn Oliver Massmann aus den Fenstern seines Büros im 13. Stock des luxuriösen Vietnamcombank Towers schaut, kann er den gesamten Nordostteil Hanois übersehen. Die Tran-Quang-Khai-Straße, eine der pulsierenden Nord-Süd-Trassen Hanois mit ihrem nie versiegenden Strom an Mopeds und Lastwagen. Labyrinthe von kleinen, zusammengeballten Häusern mit Wassertanks auf den Dächern. Im Osten der mächtige Rote Fluss, die Lebensader Nordvietnams, in entgegen gesetzter Richtung im Dunst die Pagode am zentralen Hoan Kiem-See, aus dem während des Vietnam-Krieges so mancher abgeschossene amerikanische Bomberpilot gezogen wurde.

Schröder, die WTO und die Schwiegermutter

Natürlich kennt Massmann diese Geschichten. Wie er fast alles kennt hier in Hanoi – und wie fast alle ihn kennen. Der Wirtschaftsjurist vertritt das renomierte Rechtsanwaltsbüro Baker&McKenzie in Vietnam, ist Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft. Er berät die vietnamesische Regierung bei den WTO-Beitrittsverhandlungen, hatte seinen Anteil beim entscheidenden bilateralen Handelsabkommen mit der USA, hält Vorträge in fließendem Vietnamesisch, lehrt internationales Recht im vietnamesischen Justizministerium, ist als erster und einziger Deutscher als Rechtsanwalt zugelassen. "Und als Schröder und Clement 2003 hier waren, habe ich die gebrieft. Ist ja ganz schön, wenn einem auch solche Leute mal zuhören."

Massmann mag es gern, wenn man ihm zuhört. Der massige Mann mit der markanten Glatze und den lebendigen Augen erzählt auch gut. Gut und vor allem schnell. Analysen und Anekdoten dicht gedrängt, schließlich hat ein Mann wenig Zeit - aber so viel zu sagen: Über Vietnam und die Vietnamesen, die Regierung, Statistiken, Projekte, die Weisheit der vietnamesischen Schwiegermutter - und die Deutschen.

"Wahnsinn"

Ach, die Deutschen. So sehr Massmann sich für das vietnamesische Potenzial nach dem WTO-Beitritt begeistern kann, so entgeistert ist er über die deutsche Investitions-Zurückhaltung. Er ist überzeugt, dass die deutsche Wirtschaft Vietnam verschläft. Deutschland ist bei den Investitionen gerade mal auf dem 18. Rang zu finden, einen Platz hinter Bermuda. "Welche Chancen sich hier bieten", sagt er und weist aus dem Fenster - "Bau, Maschinen, Kommunikation, ein Wahnsinn." Selbst der Mittelstand habe hier große Chancen, "anders als in China, wo man inzwischen bei einem Geschäftsvolumen unter 150 Millionen Euro ausgelacht wird."

Es scheint, als könne er es seinen Landsleuten nicht verzeihen, dass sie Vietnam eine ziemlich kühle Schulter zeigen. Vietnam, seinem Vietnam. "Merkel müsste mal kommen, das würde vielleicht helfen", sagt Massmann. Dabei wird nirgendwo in Asien mehr Deutsch gesprochen als hier. Zehntausende waren im "Bruderstaat" DDR, als Leiharbeiter oder Studenten. Im Gegenzug leistete der "Arbeiter- und Bauernstaat" Entwicklungshilfe. Der Aufstieg zum weltweit zweitgrößten Kaffeeproduzenten etwa ist maßgeblich auf die Hilfe deutscher Landwirtschaftsexperten zurückzuführen.

Ein General und 40 Kassetten

Die pragmatischen, disziplinierten und fleißigen Vietnamesen gelten als die "Preußen Asiens". Vietnamesen und Deutsche kommen miteinander klar. Dennoch bleibt auf die Dauer kaum ein Deutscher im Land. Ob Entwicklungshelfer oder Geschäftsleute, die meisten geben auf, weil sie es auch nach zwei Jahren noch nicht einmal schaffen, mit dem Taxifahrer über die nicht enden wollende Regenzeit zu radebrechen. Massmann hat sich die Sprache mit den sechs bedeutungstragenden Tonhöhen fast perfekt angeeignet. Irgendwann lernte er als Student in seiner Heimat Oberhausen den ehemaligen südvietnamesischen General kennen, der einst für die Amerikaner ein Sprachlernprogramm entwickelt hatte – und die 40 Tonbandkassetten bei seiner Flucht aus Vietnam retten konnte. Massmann hörte sie zwei Jahre lang im Auto auf dem Weg zur Universität. "Als ich dann 1991 nach meinem ersten Staatsexamen erstmals in Vietnam war, konnte ich mich schon rudimentär verständigen." Zunächst ging es aber zurück nach Deutschland. Dann kam ein erstes geschäftliches Projekt in Vietnam, 1999 siedelte Massmann endgültig über.

Wahrscheinlich für immer, sagt er. Mit deutscher Gründlichkeit paukte er volle drei Jahre Vietnamesisch an der Universität Hanoi. Und er lernte seine Frau kennen. Inzwischen sind zwei Kinder da, zwei und vier Jahre alt. Massmann ist jetzt 40 Jahre alt. Vielleicht könnte er zurückgehen. Ja, irgendwann. Man hat nicht den Eindruck, dass ihn viel zurück zieht. Dafür mag er Land und Leute viel zu gern. Selbst die sozialistische Staatsform und die Korruption will er nicht in Bausch und Bogen verdammen: "Das ist ja nicht immer destruktiv."