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Radikalen-Erlass

28. Januar 2012

Vor 40 Jahren einigten sich Bund und Länder auf den sogenannten "Radikalen-Erlass" gegen angeblich linke Aktivisten. Ab 1972 mussten sich viele Bürger jahrelang gegen staatliche Berufsverbote wehren.

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Rudi Dutschke (Foto: dapd)
Studentenführer Rudi DutschkeBild: dapd

Anfang der 1970er Jahre sahen Politiker aller großen Parteien die demokratische Grundordnung in Gefahr. Deshalb sollte das Beamtentum vor denjenigen geschützt werden, die das politische System der Bundesrepublik untergraben würden. Und so einigten sich die Ministerpräsidenten der Länder und der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Januar 1972 auf den sogenannten Radikalen-Erlass. Vorreiter war die Freie und Hansestadt Hamburg, die bereits ein halbes Jahr zuvor die Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst überprüfen ließ. "Es genügt hinsichtlich der Nicht-Einstellung der ernsthafte Zweifel daran", so damals Hamburgs Bürgermeister Peter Schulz (SPD), "dass der Bewerber sich nicht für unsere demokratische Grundordnung einsetzt".

Die neue Linke

Hintergrund der "Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen" war das Erstarken der sogenannten neuen Linken. Mit dem Radikalen-Erlass sollte verhindert werden, dass ihre Mitglieder in den staatlichen Institutionen an Einfluss gewinnen. Dabei richteten sich die beamtenrechtlichen Maßnahmen auch gegen den sogenannten "Marsch durch die Institutionen", wie ihn der bekannteste Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition der Studentenbewegung (APO), Rudi Dutschke, propagiert hatte. Was in Deutschland folgte, war eine wahre Überprüfungsflut: ein Bademeister, der Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) war, eine Verwaltungssekretärin, die sich gegen den Vietnamkrieg engagierte, ein Friedhofsgärtner, der für Amnesty International arbeitete, eine Lehrerin, die an Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr teilnahm, sie alle galten im Sinne des Radikalenerlasses als Staatsfeinde.

In der Folge mussten Bewerber für den Öffentlichen Dienst sich Fragen wie diese gefallen lassen: "Waren Sie schon einmal in der DDR? Haben Sie als Student an politischen Versammlungen teilgenommen? Waren Sie schon einmal auf einer Feier der DKP? Haben Sie schon einmal den Begriff Imperialismus in der BRD verwendet?" Ein "Ja" als Antwort konnte die Aussichten auf eine Beamtenlaufbahn zunichte machen. Verdächtige wurden zum Teil über Jahre hinweg vom Verfassungsschutz beobachtet. Darunter auch der Schriftsteller Peter Schneider, der eigentlich Lehrer werden wollte. Der Berliner Schulsenat lehnte seine Einstellung ab.

Gesinnungsprüfung und Regelanfrage

Insgesamt 1,4 Millionen Regelanfragen an die Verfassungsschutzämter wurden durchgeführt. In etwa 11.000 Fällen kam es wegen vermeintlich verfassungsfeindlicher Aktivitäten oder Zugehörigkeit zu einer verfassungsfeindlichen Organisation zu Nichteinstellungen von Bewerbern. In 136 Fällen fanden Entlassungen statt. Dafür wurde Deutschland im In- und Ausland heftig kritisiert. Das Wort vom Berufsverbot und von der Gesinnungsschnüffelei machte die Runde, so Literaturnobelpreisträger Günter Grass: "Der Radikalen-Erlass ist ein Wahnsinnsakt der Demokratie, die sich ihrer eigenen Stärke nicht bewusst ist. Was sie aber nicht verträgt, ist eine verbrämte Aufforderung zur Denunzierung."

Bundesamt für Verfassungsschutz (Foto: dpa)
Das Bundesamt für VerfassungsschutzBild: picture-alliance/dpa/dpaweb

In vielen Städten gründeten sich Antiberufsverbotskomitees. Auch bekannte Künstler schalteten sich in die Debatte ein. So schrieb Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll die Erzählung "Du fährst zu oft nach Heidelberg", in der Böll den Radikalen-Erlass und die Folgen aus dem Blickwinkel der Betroffenen schilderte. Heftige Debatten löste der Schriftsteller Alfred Andersch 1976 mit seinem Gedicht "Artikel 3 (3)" aus, in dem die Praxis der Berufsverbote kritisiert sowie Vergleiche zwischen der Bundesrepublik und dem NS-Regime gezogen wurden.

Mit Kanonen auf Spatzen

1975 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Eignung eines Bewerbers hänge nicht von der Mitgliedschaft in Organisationen, sondern von seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit ab. 1976 legte die Bundesregierung neue Richtlinien zum Radikalen-Erlass fest. Einzelne Regelungen wurden im Sinne der Bewerber verbessert. So hatten diese das Recht, einen Anwalt einzuschalten. In Einzelfällen sollte der zuständige Minister entscheiden. Doch der Radikalen-Erlass blieb umstritten.

Bundeskanzler Helmut Schmidt räumte 1978 ein, man habe "mit Kanonen auf Spatzen" geschossen. Sein Vorgänger Willy Brandt, der sein Amt einst mit dem Slogan "mehr Demokratie wagen" angetreten hatte, bewertete den Radikalenerlass rückblickend als Irrtum seiner Regierung. Doch in vielen Bundesländern gingen die Regelanfragen bis in die 1980er Jahre weiter. Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose erklärte 1979: "Sie können mich prügeln, aber das Ergebnis meines Nachdenkens lautet: Ich stelle lieber 20 Kommunisten ein, als dass ich 200.000 junge Leute verunsichere." 1979 verabschiedete sich der Bund vom Radikalen-Erlass. Bis alle Bundesländer nachgezogen hatten, vergingen noch Jahre. Das Bundesland Bremen hat den Radikalen-Erlass sogar erst im Januar 2012 abgeschafft.

Antiterrorgesetze

Zu einer Zäsur in der deutschen Innen- und Sicherheitspolitik führte auch der 11. September 2001. Bereits wenige Wochen nach den Al Kaida-Attentaten in New York City wurde ein erstes Gesetzespaket vom Bundestag beschlossen, "um die Bürger vor terroristischen Anschlägen zu schützen", so Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Danach ist die Mitgliedschaft und Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung strafbar. Auch Vereine mit religiöser Zielsetzung können jetzt verboten werden. Bis heute sind eine Reihe weiterer Terrorismusbekämpfungsgesetze in Kraft getreten: Unter anderem darf der Verfassungsschutz Informationen von verdächtigen Personen bei Banken, Post-, Flugverkehrs- und Telekommunikationsunternehmen einholen. Auch ein Terrorabwehrzentrum in Berlin wurde eingerichtet (GTAZ). Der Biometrische Reisepass wurde ebenso eingeführt wie eine Antiterrordatei und die Vorratsdatenspeicherung von Telekom-Verbindungsdaten. Schließlich bekam das Bundeskriminalamt neue Befugnisse, um Anschläge präventiv zu verhindern, etwa zur heimlichen Ausspähung von Computer-Festplatten (Onlinedurchsuchung). Damit sollen die Internetaktivitäten Verdächtiger kontrolliert werden. Viele Maßnahmen wurden zeitlich befristet. Ihre Verlängerung koppelte der Gesetzgeber an die Notwendigkeit einer Evaluierung.

USA Terror New York Anschläge World Trade Center 9/11 2001
New York, 9/11Bild: AP/dapd/Gulnara Samoilova

Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat?

Bürgerrechtsorganisationen, Datenschützer und Parteien haben gegen die Antiterror-Gesetzgebung angeführt, dass die Maßnahmen vornehmlich der Überwachung von Bürgern und politisch Andersdenkender dienten, während sie gegen Terroristen weitgehend wirkungslos blieben. Auch sei die Balance zwischen öffentlicher Sicherheit und Eingriffen in die bürgerlichen Grundrechte in Gefahr. Deshalb hatte 2010 das Bundesverfassungsgericht die Massenspeicherung von Telekommunikationsdaten für nichtig erklärt. Allerdings schlossen die Richter die Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich aus. In die Kritik sind auch international operierende Konzerne wie Google geraten, die ebenfalls in die Bürgerrechte eingreifen würden, weil sie weit mehr Daten anhäufen als die staatlichen Strafverfolgungsbehörden.

Autor: Michael Marek
Redaktion: Volker Wagener