Artensterben bedroht uns wie der Klimawandel
6. Mai 2019Sie sind die unermüdlichen Verwalter der Luft, des Wassers und des Landes, von dem wir leben. Aber die Millionen von Arten, deren Vielfalt unseren Wohlstand begründet, sind durch den menschlichen Einfluss ernsthaft gefährdet, sagen Wissenschaftler - und das wiederum gefährdet uns.
Der Verlust der biologischen Vielfalt ist eine ebenso große Bedrohung für den Menschen "wie der Klimawandel", sagte Robert Watson, Chef der Vereinten Nationen für biologische Vielfalt, letzte Woche auf einer Konferenz in Paris. Dort legten Wissenschaftler jetzt einen wegweisenden Bericht über die globale Biodiversität und den Zustand unserer Ökosysteme vor.
"Der anhaltende Verlust der biologischen Vielfalt wird unsere Fähigkeit zur Armutsbekämpfung, zur Nahrungsmittel- und Wassersicherheit, zur menschlichen Gesundheit und zum übergeordneten Ziel, niemanden zurückzulassen, untergraben."
Der Bericht, der erste seiner Art seit 2005, wurde heute vom Intergovernmental Panel on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) veröffentlicht. Er warnt vor schwerwiegenden Folgen für die Menschheit durch massenhaftes Artensterben und Naturzerstörung. Der Bericht fasst die Arbeit von mehr als 400 Experten zusammen und zeichnet das düstere Bild einer Welt, in der lebenswichtige Güter wie Nahrung und Trinkwasser durch den Artenrückgang und den Abbau der Ökosysteme gefährdet sind.
Der beispiellose und beschleunigte Verschleiß der Natur in den letzten 50 Jahren wurde durch Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung, der Ausbeutung von Lebewesen, den Klimawandel, die Umweltverschmutzung und invasive Arten verursacht, so der Bericht. Diese fünf Faktoren wiederum werden durch ein gesellschaftliches Verhalten gefördert, das von Konsum bis zur politischen Steuerung reicht.
Die Zerstörung von Ökosystemen bedroht auch den menschlichen Fortschritt und hat 35 der 44 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung untergraben, darunter auch die für Armut, Hunger und Gesundheit, so die Autoren.
Diplomaten aus 130 Nationen kamen in Paris zusammen, um sich auf den endgültigen Wortlaut der Zusammenfassung des Berichts für politische Entscheidungsträger zu einigen.
"Der Verlust von Arten, Ökosystemen und genetischer Vielfalt ist bereits eine globale und generationsübergreifende Bedrohung für das menschliche Wohlbefinden", sagte Watson. "Der Schutz der unschätzbaren Beiträge der Natur für den Menschen wird die entscheidende Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sein."
Warum Biodiversität wichtig ist
Das Wort Biodiversität steht für biologische Diversität und bezeichnet die Fülle und Vielfalt des Lebens auf dem Planeten. Die Definition umfasst mehr als nur die Tieren und Pflanzen, die wir sehen können. Sie reicht von winzigen Genen, Bakterien, Pflanzen und Tieren bis hin zu Ökosystemen wie dem Amazonas-Regenwald und dem australischen Great Barrier Reef.
Das macht es schwierig, Biodiversität zu quantifizieren - und noch schwieriger sie zu bewerten.
Während es weltweit etwa 1,5 Millionen identifizierte Arten gibt, schätzen Wissenschaftler, dass die tatsächliche Zahl näher an zehn Millionen liegen oder sogar bis zu zwei Milliarden gehen könnte. Viele Organismen sind so klein, dass sie nur durch DNA-Sequenzierung als eigenständige Arten identifiziert werden können.
"Wenn man an Biodiversität denkt, denkt man an Tiger und Eisbären", sagte Rebecca Shaw, Leitende Wissenschaftlerin des World Wildlife Fund. "Diese Arten sind sehr wichtig - aber auch die Arten, die man nie sieht und über die man spricht."
Ohne dass Bienen Pflanzen und Bäume bestäuben, die Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln, werden selbst grundlegende menschliche Aufgaben wie Essen und Atmen schwieriger. Aber auch weniger offensichtliche Verluste schaden Menschen, wie der Rückgang von Heilpflanzen und Mangroven, die die Küsten schützen.
Weil Organismen in vieler Weise interagieren, kann das Schwinden einer einzelnen Art unerwartete Verluste im gesamten Ökosystem verursachen. So begrenzt beispielsweise ein Rückgang von Regenwürmern, Pilzen oder Bodenmikroben die Menge an recycelten Nährstoffen im Boden und die Anzahl der Löcher, durch die Regenwasser fließt, was wiederum das Pflanzenwachstum behindert und damit auch die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu versorgen.
"Wir sehen das nicht als die Natur, aber das ist die Natur", sagte Shaw. "Nicht auf all diese komplexen Wechselwirkungen im Boden zu achten - und zu denken, dass wir einfach Dünger oder Pestizide ausbringen und den gleichen produktiven Boden für die nächste Generation beibehalten können - ist töricht."
Der Bericht ergab, dass etwa ein Viertel der untersuchten Pflanzen- und Tierarten vom Aussterben bedroht sind, viele davon innerhalb der nächsten Jahrzehnte, es sei denn, es werden sehr schnell Maßnahmen dagegen ergriffen.
Warum es den Menschen schadet
Rechnet man nur die Biomasse macht der Mensch nur 0,01 Prozent der globalen Biodiversität aus.
Doch beschreibt der Bericht die überdimensionalen Ausmaße in denen unsere Spezies andere Arten gefährdet. Wälder wurden zerstört, Flüsse verschmutzt, Ozeane überfischt, Insekten getötet und die Natur anderweitig verletzt und ausgebeutet, um Ressourcen zu gewinnen.
"Die Natur ermöglicht menschliche Entwicklung, aber unsere unerbittliche Nachfrage nach den Ressourcen der Erde beschleunigt die Aussterbe-Rate und zerstört die Ökosysteme der Welt", sagt Joyce Msuya, stellvertretender Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen.
Der Bericht stellt auch fest:
- Durch menschliches Handeln hat sich mehr als zwei Drittel der Umwelt deutlich verändert.
- Die globale Aussterbe-Rate ist heute drei- bis zehnmal so hoch wie im Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre.
- Mehr als ein Drittel der weltweiten Landfläche und fast 75 Prozent der Süßwasserquellen werden heute für die pflanzliche oder tierische Produktion genutzt.
Die Landwirtschaft ist besonders sensibel, denn nur neun Pflanzenarten machen heute mehr als zwei Drittel der weltweiten Ernte aus und der Boden, auf dem sie wachsen, ist von Erosion, Urbanisierung und Entwaldung bedroht.
Als Zeichen der starken Rückkopplungsschleifen ist die Landwirtschaft selbst ein wichtiger Treiber für den Verlust der biologischen Vielfalt: Pestizide, Bodenerosion und Waldrodung zerstören Lebensräume und dezimieren Wildbestände. Und die Verwüstung von Böden verringert nicht nur ihren Nutzen für die Erzeugung von Nahrungsmitteln, sondern auch die Fähigkeit, Wasser zu speichern, was auch für den Menschen zu mehr Wasserknappheit und häufigeren Überschwemmungen führt.
Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur werden durch den Klimawandel verschärft, der wiederum durch Schäden an Ökosystemen, wie den Verlust von Wäldern, die Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln, verstärkt wird, so der Bericht.
Eine im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Science veröffentlichte Studie ergab, dass selbst wenn Länder ihre derzeitigen Verpflichtungen zur Begrenzung der CO2-Emissionen einhalten, 49 Prozent der Insekten und 44 Prozent der Pflanzen bis 2100 über die Hälfte ihrer Lebensräume auf der Erde verlieren werden.
Wie wir es aufhalten können
Während einige der im Bericht aufgeführten Probleme seit Jahrzehnten bekannt sind, haben Wissenschaftler Schwierigkeiten, die Dringlichkeit zu vermitteln, mit der sie angegangen werden müssen.
Im Jahr 2010 haben die Vereinten Nationen ein "Jahrzehnt der Biodiversität" ausgerufen, um den Verlust der Biodiversität zu reduzieren. Aber laut dem heutigen Bericht hat sie nur mit einer Handvoll der 20 Ziele, die sie ihren Mitgliedern gesetzt hat, gute Fortschritte gemacht, darunter bei der Erhaltung von Meeresgebieten und der Priorisierung invasiver gebietsfremder Arten. Jedes Ziel, das sich auf die zugrunde liegenden Antreiber dieser Entwicklung bezog, hatte nur moderate oder schlechte Fortschritte gemacht.
Aber, so der Bericht, "dringliche und konzentrierte Anstrengungen" können die Natur noch erhalten und wiederherstellen, damit sie nachhaltig genutzt werden kann.
Um die negativen Auswirkungen des Verlusts der Biodiversität bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus zu vermeiden, sei ein "transformativer" Politikwechsel erforderlich, schreiben die Autoren. Sie schlagen ein breit gefächertes Instrumentarium von Maßnahmen vor, das nachhaltige landwirtschaftliche Methoden, Anreize zur Reduzierung von Verbrauch und Abfall, effektive Fangquoten und eine kollaborative Wasserwirtschaft umfasst.
Während die Empfehlungen des Berichts auf politische Entscheidungsträger ausgerichtet sind, sagen Wissenschaftler, dass viele Verbraucherentscheidungen, wie die Verringerung des Rindfleischkonsums und der Verzehr von Fisch aus nachhaltiger Herkunft, notwendig sind, um die Ökosysteme zu erhalten.
Die Autoren betonten auch die Bedeutung der Entwicklung globaler Finanzsysteme, die vom "begrenzten Paradigma" des Wirtschaftswachstums wegführen.
"Der Bericht sagt uns auch, dass es nicht zu spät ist, etwas zu bewegen, aber nur, wenn wir jetzt auf allen Ebenen von lokal bis global beginnen", so Watson.