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Das Jahr der Wölfe

13. August 2010

Autor Willi Fährmann war als Kind von den Nazis begeistert, nach dem Krieg schockiert. Er wurde bekannt durch sein Jugendbuch über die Flucht aus Ostpreußen – damals ein Tabuthema.

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Ausschnitt aus dem Buchcover Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe (Arena)
Ausschnitt aus dem Buchcover

Vielleicht verdankt Willi Fährmann sein Leben einem ehemaligen Feldwebel aus dem Ersten Weltkrieg. Er war der Anführer des letzten Wehraufgebotes, das man in einem Dorf im westfälischen Lipperland auf die Beine gestellt hatte: zwei 15 Jahre alte Jungs und zwölf alte Männer. Er ließ sie auf einem Berg eine Panzersperre bauen und löste den sogenannten "Volkssturm" unter einer fadenscheinigen Begründung auf, bevor es ernst werden konnte. Willi Fährmann war einer der beiden Jungs, "und ich sage Ihnen, ich war ganz schön enttäuscht, als unsere Gruppe aufgelöst wurde. Ich wollte schließlich noch gewinnen!"

Das braune Weltbild

Willi Fährmann war als Kind ein begeisterter Anhänger der Nazis. Er sagt, es sei heute sehr schwer verständlich zu machen, dass er sich sein gesamtes Weltbild aus den wenigen Informationen baute, die die Nationalsozialisten zuließen. Radio und Zeitung waren gleichgeschaltet, was das Propagandaministerium nicht verbreiten wollte, wurde nicht gesendet oder geschrieben. Sein Elternhaus sei sehr unpolitisch gewesen, sagt Fährmann. Als er dann als 13-Jähriger die letzten beiden Kriegsjahre mit seiner Mutter im westfälischen Lipperland verbrachte, weil man dort vor Bombenangriffen sicherer war als in seiner Heimatstadt Duisburg, besuchte er dort ein Gymnasium, "das war braun, brauner, am braunsten, das war durchtränkt mit brauner Soße". Und er mittendrin.

Zweifel habe er manchmal gehabt, sagt Willi Fährmann, aber die habe er weggeschoben. Durch die Straße, in der er mit seinen Eltern in Duisburg wohnte, wurden täglich russische Kriegsgefangene zur Arbeit in die Thyssen-Hütte geführt, morgens hin, abends zurück. "Und die haben oft auch auf einem Brett, mit Säcken zugedeckt, Tote mit ins Lager zurück getragen. Das war für mich ein Schock." Er habe sich dann gesagt, "wenn das der Führer wüsste, dann würde das nicht passieren." Nach dem Krieg sei das Erwachen gekommen, der Schock, "als die Götter auf einmal von den Sockeln stürzten. Und dann merkte man, wie man auf das Glatteis geführt worden ist."

Flucht über das vereiste Haff aus dem eingeschlossenen Ostpreußen im Januar / Februar 1945 (Foto: ullstein bild)
Endloser Marsch in klirrender Kälte: Flucht über das vereiste Haff aus Ostpreußen nach BerlinBild: ullstein bild

Realität als Vorbild

Fährmann schloss sich einer katholischen Jugendbewegung an, deren Mitglieder sehr streng mit sich selbst waren – kein Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, viele politische Diskussionen und "nichts mit Mädchen, bis man 18 Jahre alt war." Sein eigenes Verhalten und Denken während des Krieges, die Tatsache, dass er "den Nazis auf den Leim gegangen war", waren für ihn ein Antrieb, von dieser Periode deutscher Geschichte zu erzählen. Aber die Idee zu "Das Jahr der Wölfe" kam ihm erst durch einen Freund, der von seiner eigenen Geschichte der Flucht aus Ostpreußen nach Berlin im Winter 1944/45 erzählte. Als Fährmann diese Fluchtgeschichte hörte, hatte er bereits seine Lehre als Maurer abgeschlossen, sein Abitur nachgeholt, studiert, arbeitete als Lehrer an einer Volksschule in Duisburg und hatte vier Bücher geschrieben.

Fährmann machte sich an die Recherche. Sprach vier Abende lang mit den Eltern seines Freundes, legte Karteikarten an mit den wichtigsten Informationen, las sich durch Schriften über den deutschen Osten in einem Düsseldorfer Archiv und wurde weitergereicht an andere Familien, die alle mit Sack und Pack aus Ostpreußen geflüchtet waren. Die Hauptperson seines Buches ist Konrad, er ist zwölf, hat drei Geschwister, sein Vater ist Bauer.

Als sie am Abend in ihren Betten lagen, hörte Konrad seine Schwester leise weinen. "Was ist, Hedwig?" Sie zog die Decke über den Kopf, er tastete sich zu ihr hinüber. Ihre Schultern zitterten. "Ich will nicht fort von hier, Konrad, ich will nicht fort von Leschienen."

Zeugnis des Elends

Der Schriftsteller Willi Fährmann (Foto: DW / Marlis Schaum)
Der Schriftsteller Willi FährmannBild: DW

Auf gerade mal 217 Seiten erlebt man als Leser mit Konrad nicht nur die Flucht, Hunger, Kälte und Ängste. Willi Fährmann spricht in vielen Nebensträngen auch zahlreiche andere Themen an: den Einzug von Teenagern zum sogenannten Volkssturm zum Beispiel – sie wurden gegen Ende des Krieges verpflichtet, Ortschaften militärisch zu sichern und das Land zu verteidigen, obwohl sie noch gar nicht wehrpflichtig waren. Es geht außerdem um das Verstecken von Juden, Vergewaltigungen, die Lage der Zwangsarbeiter, die Erlebnisse und die Sichtweise der Russen. "Wenn Sie Menschen beschreiben, müssen Sie immer beide Seiten sehen. Die müssen nicht ausbalanciert sein, aber sie müssen beide vorhanden sein. Ich kenne keinen absolut bösen und auch keinen absolut guten Menschen. Gute und böse Neigungen stecken in jedem", sagt Willi Fährmann.

"Das Jahr der Wölfe" solle kein moralischer Zeigefinger sein, sagt er, er habe nur Zeugnis geben wollen, wohin ein Krieg Menschen führen kann, "nämlich ins absolute Elend." Der Titel "Das Jahr der Wölfe" war übrigens eine Idee des Verlages. Ein Wolf war in den 1960er Jahren noch Synonym für räuberisches Verhalten, und er ist eindeutig das Leitmotiv in Fährmanns erstem Erfolgsbuch.

Vater trieb das Pferd an und lenkte das Gespann neben das des Vetters. "Otto," bat er, "fahr ein wenig langsamer, damit ich vor Dir in die Reihe einbiegen kann." Doch Otto Regnitz wollte ihn nicht verstehen und hielt sich dicht hinter dem Vorderwagen. "Otto," sagte die Mutter, "wir kommen nicht in die Reihe!" Ihr Vetter winkte ärgerlich mit der Hand ab und blickte nicht mehr zur Seite. Da rief ein Mädchen: "Warte Mann, ich fahre langsamer, ich lasse Dich hinein." (...) "Ist der Vetter ein Wolf?", fragte Albert. "Ja Kind, ein reißender Wolf.", bestätigte die Mutter so laut, dass es bis zu den Nachbarwagen drang. Der Vetter sah sich nicht einmal um.

Willi Fährmann sagt, das mit dem Wolf tue ihm im Nachhinein heute fast leid. Wolfsrudel seien hoch soziale Gebilde. "Man kann eigentlich nicht sagen, dass Menschen so wie Wölfe gehandelt haben ... Die Wölfe handeln nicht so."


Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gabriela Schaaf

Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe. Arena Verlag. 217 Seiten. 5,95 Euro.