Der Irrsinn der zwei Parlamentssitze
10. November 2012Das Europäische Parlament hat seinen Hauptsitz in Brüssel. Hier sind wichtige europäische Institutionen angesiedelt, auch die Europäische Kommission und der Europäische Rat. Aus historischen Gründen bricht jedoch das gesamte Parlament zwölf Mal im Jahr seine Zelte ab, um für Plenarsitzungen nach Straßburg zu reisen.
Jeden Monat machen sich alle 750 Mitglieder des EU-Parlaments und Tausende Mitarbeiter mit dem Auto, der Bahn oder per Flugzeug für eine Woche auf ins Elsass. Mit dem Auto sind es mehr als 430 Kilometer nach Straßburg, die Fahrt dauert knappe fünf Stunden - ein halber Arbeitstag.
Der Wanderzirkus nach Straßburg ist teuer: Die Kosten des Zweitsitzes belaufen sich auf geschätzte 170 bis 200 Millionen Euro pro Jahr, das sind mehr als zehn Prozent des parlamentarischen Jahresetats. Gegner betonen auch die Belastung für die Umwelt: geschätzte 19.000 Tonnen zusätzlicher CO2-Emissionen.
Bürgerinitiative gegen Verschwendung
Gleichzeitig zwingen Kürzungen und Sparmaßnahmen die Menschen in vielen europäischen Ländern dazu, den Gürtel enger zu schnallen. Manch einer fragt sich, warum man nicht längst die Ausgaben für Straßburg eingeschränkt hat. Mehr als 1,2 Millionen EU-Bürger haben bereits eine Petition für einen einzigen Sitz in Brüssel statt des Doppelsitzes unterschrieben.
"Das Problem ist, dass die EU-Parlamentarier in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht haben", meint Alexander Alvaro (FDP), Vizepräsident des EU-Parlaments und Vorsitzender der "One-Seat" Kampagne. Das hätte man sonst schon längst geändert, so der liberale Politiker gegenüber der Deutschen Welle.
Die Mehrheit der EU-Abgeordneten unterstützt die Konzentration auf den Standort Brüssel. In einer Abstimmung im EU-Parlament am 23. Oktober stimmten 74 Prozent der Abgeordneten dafür, die aktuelle Pendelpraxis zu beenden. Nur 21 Prozent - in der Mehrheit Franzosen - stimmten gegen den Antrag.
Rechtliche Probleme
Die Sitzungen in Straßburg sind gesetzlich verankert. Zwölf Mal im Jahr muss das EU-Parlament in der Stadt im Elsass zusammenkommen. Frankreich hat sich bisher jedem Versuch widersetzt, die Verträge zu ändern.
"Die EU-Verträge können nur einstimmig von den Mitgliedsländern geändert werden", erklärt Alvaro. Doch er gibt sich zuversichtlich. Allmählich würden auch die Franzosen erkennen, dass sich etwas ändern muss.
Nathalie Griesbeck, wie Alvaro Mitglied in der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, vertritt eine andere Meinung. "In den Verträgen ist festgelegt, dass die wichtigsten EU-Institutionen über die Mitgliedsländer verteilt sein sollen", meint die französische Abgeordnete. "Frankreich wurde das Recht zugesprochen, das EU-Parlament in Straßburg anzusiedeln." Eine Vertragsänderung kommt für Griesbeck nicht in Frage. Die Abgeordneten hätten Wchtigeres zu tun, als über Vertragsänderungen nachzudenken, meint Griesbeck gegenüber der Deutschen Welle.
Im bisher letzten Akt dieses ewigen Dramas beschloss das EU-Parlament, zwei Sitzungen im Oktober in eine einzige Woche zu packen, eine Art "Super-Sitzung." Der sitzungsfreie Mittwoch teilte die Woche in zwei Teile. Der Europäische Gerichtshof wird diesen Anlauf, die Vorgabe des Vertrags bezüglich der zwölf Plenarsitzungen pro Jahr in Straßburg zu umgehen, wohl eher für illegal befinden. Der endgültige Gerichtsentscheid steht jedoch noch aus.
Historisches Pflaster
Straßburg ist zweifellos eine schöne Stadt. Die Altstadt mit ihren herrlichen Fachwerkhäusern, malerischen Straßen und dem mächtigen Münster gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Geschäftsleute machen sich große Sorgen über eventuelle Einkommenseinbußen, sollte das EU-Parlament seinen Sitz in der Stadt verlieren. Hotels und Restaurants sind immer ausgebucht, sobald der Tross der Politiker, Lobbyisten und Journalisten in der Stadt ist.
Befürworter der Kampagne haben bereits Ideen entwickelt, um der örtlichen Wirtschaft unter die Arme zu greifen. Man könne zum Beispiel eine europäische Elite-Universität gründen, meint Alexander Alvaro. Von einer internationalen Uni, vergleichbar mit Elite-Universitäten wie MIT, Harvard und Stanford, würde die Stadt das ganze Jahr über profitieren, nicht nur während der zwölf Sitzungswochen, argumentiert der deutsche Politiker. "Frankreich ist sehr kurzsichtig, wenn es diese Möglichkeiten nicht sieht."
Aber auch die optimistischsten Vorkämpfer für Brüssel als einzigen Sitz des EU-Parlaments erwarten wegen der rechtlichen Hürden nicht, dass sich in den nächsten fünf Jahren etwas ändert.