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Der freie Wille - und die Hinterbliebenen

10. September 2011

Die WHO hat den 10. September zum Welttag der Suizid-Prävention erklärt. In Deutschland gibt es etwa 8000 Suizide pro Jahr. Die Selbsthilfegruppe AGUS betreut Hinterbliebene, die oft mit Schuldgefühlen kämpfen.

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Der Weg ohne Rückkehr: Ein Mann geht ins Endlose... (Foto: Fotolia)
Bild: Fotolia/david harding

Diesen rabenschwarzen Tag vor neun Jahren wird Silke Mayerhofer nie vergessen können. "Es war der 11. Geburtstag unserer Tochter, und mein Mann legt sich mit einer Überdosis Narkosemittel auf den OP-Tisch. Das dauerte keine 30 Sekunden, dann war es vorbei." Ruhig und ohne Zittern in der Stimme erzählt die heute 45-Jährige von jenem Erlebnis, das für sie lange Zeit ein einziger, unbegreiflicher Schock war.

"Am Anfang saß ich in der Küche und hab nur vor mich hin gestarrt. Ich wollte eine Ahnung kriegen von dieser Leere, die jemand empfinden muss, wenn er diesen Schritt geht." Eine Antwort hat sie bis heute nicht gefunden, auch keinen Abschiedsbrief.

Ihr Mann war Arzt, hatte mit Anfang 40 seine eigene Praxis, war erfolgreich in seinem Job. Warum er sich ohne Vorwarnung das Leben nahm, was ihn nach 13 Ehejahren und fünf gemeinsamen Kindern zu diesem unumkehrbaren Schritt getrieben hat, Silke Mayerhofer weiß es bis heute nicht. "Es ist mir unbegreiflich. Ich war nicht in der Lage, etwas zu fühlen."

Das Unaussprechliche ansprechen

Symbolbild Trauer mit dem Schatten eines Todesengels(Foto: Fotolia)
Trauer und FassungslosigkeitBild: Fotolia/Arti

Es ist ein sonniger Samstagnachmittag in Leipzig, die Uhr zeigt kurz vor Zwei. Silke Mayerhofer steht in einem hellen Vereinsraum im Leipziger Westen und kocht zwei große Kannen Kaffee. Immer mehr Menschen treten ein, eine kurze Begrüßung, dann setzen sie sich gedankenverloren an den großen Tisch in der Mitte. Die Stimmung ist gedrückt, kaum jemand unterhält sich mit den Nachbarn.

Seit knapp drei Jahren betreut Silke Mayerhofer diese Gruppe, in der jeder einen Angehörigen durch Suizid verloren hat. Mehrere Paare in der Runde trauern um den Sohn, drei Frauen um ihren Lebenspartner, eine junge Studentin um ihre Mutter. Nachdem der Kaffee ausgeschenkt ist, erzählt jeder in der Runde seine persönliche Geschichte, berichtet von den Gefühlen, die einen Nachts kaum schlafen lassen. Hilflos fühlt sich das an, allein, ratlos, die meisten hier können noch nicht begreifen, was geschehen ist. Ihre Stimmen sind brüchig, immer wieder verschwinden ihre Worte hinter Tränen.

Einige sind heute zum ersten Mal da, andere kommen seit vielen Monaten. "Erfahrungsgemäß kommen die, die ein Kind betrauern, länger", erklärt Silke Mayerhofer. "Wer einen Partner betrauert, bleibt meist weg, wenn er einen neuen gefunden hat." Vor allem bei trauernden Eltern falle es ihr schwer, irgendwie Hoffnung zu geben. "Da ist die ganze Zukunft weg, keine Hoffnung auf eigene Enkel. Wie soll man denen erklären, dass es trotzdem Sinn macht, weiter zu leben!?"

Hilfe und Selbsthilfe

Logo der Selbsthilfegruppe Agus (Angehörige um Suizid) (Foto: Agus)

Einmal im Monat trifft sich die Leipziger Selbsthilfegruppe, von denen es in ganz Deutschland etwa 50 gibt. Silke Mayerhofer hat schon kurz nach dem Suizid ihres Mannes angefangen, sich bei AGUS, bei "Angehörige um Suizid" zu engagieren. Sie hat sich zur Trauerbegleiterin ausbilden lassen, um Angehörigen in ihrer verzweifelten Lage beizustehen. Ihre eigenen Erfahrungen helfen ihr dabei, auch wenn jeder sein Trauma am Ende anders verarbeitet. Viele verlieren selbst den Sinn am Leben, wenn sich das eigene Kind, der Ehepartner oder die Eltern das Leben nehmen.

Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen können helfen, meint Mayerhofer, doch deren Trauer und Mitgefühl lasse auch schnell wieder nach. Ohne die Gruppe stünden die Betroffenen bald mit ihrem Schmerz und der Hilflosigkeit allein da. "Verwandte und Freunde sind nicht so betroffen wie wir, und irgendwann will man das denen auch nicht mehr erklären."

Ähnliche Gefühle

Schatten einer trauernden Person in einem abgedunelten Flur (Foto: Fotolia/Kwest)
Angehörige brauchen HilfeBild: Fotolia/Kwest

In der Gruppe sei das anders, denn hier sind die Erlebnisse ähnlich, die Gefühle auch. "Du kannst einfach erzählen und dir sicher sein, dein Gegenüber versteht das. Was selbst der Freundeskreis nicht mehr tragen kann, kann die Selbsthilfegruppe tragen.“

Über zwei Stunden sitzen sie beieinander, erzählen davon, dass sie in den letzten Monaten kaum eine Minute nicht an den verlorenen Sohn, die Tochter oder den Ehepartner gedacht haben. Wie sie versuchen, wieder arbeiten zu gehen, um ein Stück Normalität in ihr Leben zu lassen - und wie schwer ihnen das fällt. Oder von Bekannten, gar Freunden, die die Straßenseite wechseln, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem Tabuthema Suizid umgehen sollen.

Eine bohrende Frage

Suizid - keine Trauer wie jede andere (Foto: Agus)

Immer wieder taucht in der Runde eine besonders heikle Frage auf, die niemand wirklich beantworten kann: Wie viel Schuld trage ich selbst? Wer ist verantwortlich für die aussichtslose Lage, die letztendlich zum Suizid geführt hat?

Silke Mayerhofer, die selbst sehr lange nach einer Antwort gesucht hat, sagt: "Keiner kommt an dieser Schuldfrage vorbei!" Ist es passiert, weil man vielleicht im richtigen Moment nicht genau zugehört hat? Oder weil man dies oder das gemacht oder eben dies und das nicht gemacht hat?

"Es ist ganz schwer, objektiv zu bleiben. Aber mein Mann war 43, er hat es selbst entschieden: 'Für mich ist hier nichts mehr lebenswert, ich gehe'. Das war seine Entscheidung, das kann ich heute akzeptieren." Der freie Wille habe entschieden, meint sie.

Doch so weit wie Silke Mayerhofer ist sonst noch niemand in dieser Runde. Nach gut zwei Stunden löst sie sich langsam auf. Eine kurze Verabschiedung, ein letzter trauriger Blick, dann verschwinden die Angehörigen nach draußen, wo am Himmel noch immer die Sonne scheint.

Autor: Ronny Arnold

Redaktion: Hartmut Lüning