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Der Feind meines Feindes ist mein Freund

Philipp Sandner8. August 2016

Bei friedlichen Protesten ist die äthiopische Regierung mit aller Härte gegen Demonstranten vorgegangen. Augenzeugen berichten von mehreren Dutzend Toten. Die Repression schweißt einst verfeindete Gruppen zusammen.

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Bild: Reuters/T. Negeri

Zum ersten Mal Meskel Square. Es ist das erste Mal seit dem Beginn der Proteste vor Monaten, dass unzufriedene Bürger in Äthiopien auch den symbolischen Platz in der Hauptstadt Addis Abeba besetzen. Und überhaupt das erste Mal, dass der Protest die Hauptstadt erreicht. Zwar sind es nur wenige Hundert, denen es gelingt, am Samstag die Reihen der Polizei zu durchbrechen - aber es ist ein Zeichen: Der Widerstand gegen die Regierung von Premierminister Hailemariam Desalegn hat neue Ausmaße angenommen. Es geht um politische Mitbestimmung, um eine gerechtere Verteilung von Land und Ressourcen, aber auch schlicht und ergreifend um das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Dabei sind die Proteste in Addis Abeba nur die Spitze des Eisbergs. Auf einen Demonstranten am Meskel Square kommen Dutzende, die am Wochenende in den Bundesstaaten Amhara und Oromia auf die Straßen gingen. Laut Aktivisten gab es in mehr als 200 Städten Proteste. In Bahir Dar, der Hauptstadt des Bundesstaats Amhara, geraten die Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften besonders blutig. Nachrichtenagenturen melden zunächst sieben Tote. Augenzeugen sprechen von mehr als 30.

Proteste auf dem Meskel Square, Copyright: Reuters/T. Negeri
Sie setzen sich über das Demonstrationsverbot hinweg und gehen auf die Straßen: Hunderte Demonstranten hatten im Zentrum von Addis Abeba am vergangenen Wochenende für mehr Mitsprache demonstriertBild: Reuters/T. Negeri

Die Polizei habe versucht, Demonstranten aus dem Umland von der Demonstration fernzuhalten, berichtet ein Augenzeuge der DW. Aus Angst vor Verfolgung möchte er anonym bleiben. "Das Chaos wurde größer als sie ein siebenjähriges Kind erschossen." Die Lage bleibe weiterhin gefährlich. "Zivilisten und Spezialeinheiten stehen sich gegenüber. Es fallen immer noch Schüsse." Ganz anders liest sich die Einschätzung der Lokalverwaltung, die von "illegalen Aktivitäten unter dem Deckmantel von Demonstrationen" spricht - so wird diese vom regierungsnahen Medienhaus Fana Broadcasting Corporate zitiert. Hotels, Banken und private Besitztümer seien überfallen worden; eine Handgranate sei auf Sicherheitskräfte geworfen worden. "Nach dem Angriff auf Sicherheitskräfte wurden Maßnahmen ergriffen, um die Ordnung wieder herzustellen."

Breite Masse gegen kleine Elite

In den letzten Monaten waren es vor allem Menschen aus der zahlenmäßig stärksten Ethnie der Oromo, die auf die Straße gingen. Jeder dritte Äthiopier ist Oromo, aber politisch spiegelt sich dieses Verhältnis nicht wieder. Regierung und Militär sind dominiert von der kleinen Ethnie der Tigray. Die Befreiungsfront des Tigray-Volkes (TPLF) ist stärkste Kraft in beiden Häusern des Parlaments.

Copyright: DW
Die Hauptstadt Addis Abeba liegt geografisch im Bundesstaat Oromia. Umstrukturierungspläne der äthiopischen Regierung stoßen bei der Oromo-Bevölkerung auf Widerstand

Nun will die TPLF umstrittene Gebietsreformen durchdrücken. Schon im April 2014 kündigte sie an, die Fläche der Bundeshauptstadt Addis Abeba auf Kosten der umliegenden Oromia-Region auszuweiten. Oromo-Bauern sahen ihre Lebensgrundlage schwinden und protestierten. Der Konflikt weitete sich Ende 2015 aus, als weitere Umstrukturierungspläne bekannt wurden. Die Regierung hat die Pläne zwar zum Teil zurückgenommen. Doch die Empörung hält an. Vergangene Woche erklärte Premier Dessalegn die geplanten Demonstrationen für illegal und ordnete die Sicherheitskräfte an, alles Nötige zu tun, um dagegen vorzugehen.

Neue Solidarität

Ein Vorgehen, das Awol Kassim von der London School of Economics für fragwürdig hält. "Laut Verfassung müssen Demonstranten ihre Pläne der Regierung lediglich mitteilen", sagt der Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler im DW-Gespräch. Diese Pflicht sei offenbar erfüllt worden. Die Aufgabe der Regierung wäre demnach gewesen, die Sicherheit zu garantieren, anstatt gegen die Demonstranten vorzugehen. Dass die Regierung auf Repression setzt, wundert Kassim indes nicht. Das liege in der Natur einer Minderheitsregierung, die das Volk nicht repräsentiert. "Um dieses System zu erhalten, muss die Regierung auf eine ganze Palette von Kontrolle und Unterdrückung zurückgreifen."

Die Proteste gegen die Regierung haben am Wochenende eine neue Dimension erreicht - und eine neue Entschlossenheit. Dass die Menschen trotz des Demonstrationsverbots zu Tausenden auf die Straße gegangen seien, zeige eine bedeutende Wende in Äthiopien, sagt Kassim.

Neu ist auch, dass die verschiedenen Protestbewegungen gegenseitig ihre Solidarität bekunden. Bisher trennte die Oromo und die Amharen eine rivalisierende Feindschaft. So fühlten sich die Oromo in der Vergangenheit bei der Landverteilung und der Sprachpolitik benachteiligt. Ein Beispiel: Obwohl die Sprache der Oromo mit zu den meistgesprochenen des Kontinents zählt, ist sie bis heute keine Amtssprache in Äthiopien. Die National- und Arbeitssprache bleibt Amharisch.

Doch durch die zunehmende Repression scheinen sich die alten Feindschaften mehr und mehr aufzulösen. So hielten Demonstranten in Bahir Dar, der Hauptstadt von Amhara, das Bild von einem gefangenen Oromo-Führers hoch. Kassim erkennt darin, dass die "Divide and rule"-Strategie der Regierung nicht mehr aufgehe. Lange habe die Tigray-Regierung versucht, beide Seiten gegeneinander auszuspielen, um sich so ihre Macht zu sichern, sagt der politische Analyst Kassim. Das gehe nun nicht mehr auf. "Menschen, die nicht mal miteinander sprechen wollten, die sich regelrecht gehasst haben, bekunden nun ihre gegenseitige Solidarität."