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Der Fall Envio

Julia Mahncke10. Mai 2012

Polychlorierte Biphenyle sind weltweit verboten, lauern aber überall. Weil die deutsche Recycling-Firma Envio Arbeiter ungenügend vor der gefährlichen Substanz geschützt haben soll, steht der Ex-Chef nun vor Gericht.

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Ex-Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert Foto: Marius Becker dpa/lnw
Deutschland Envio UmweltskandalBild: picture-alliance/dpa

Ihr Blut ist vergiftet. Viele der ehemaligen Mitarbeiter des Entsorgungsunternehmens Envio warten gewissermaßen darauf, dass sie krank werden. Mehr als 50 von ihnen haben deutlich erhöhte PCB-Werte (Polychlorierte Biphenyle). In ärztlicher Behandlung sind über 300 Menschen: Arbeiter, ihre Ehepartner und Kinder, sowie drei Kleingärtner aus dem Umkreis der Fabrik. Bei einigen Betroffenen wurde eine Belastung 25.000-fach über dem PCB-Normalwert gemessen. Sie leiden unter der Ungewissheit, was das für ihre Gesundheit bedeutet. Schon jetzt klagen einige über Konzentrationsschwierigkeiten, Hautprobleme und andere Beschwerden.

Unternehmen müssen für Schutz sorgen

Der Grund für die hohen PCB-Werte im Blut der Betroffenen ist vermutlich ihr alter Arbeitsplatz in Dortmund. Die gefährlichen Substanzen können über Nahrung in den Körper gelangen, aber auch, wenn sie eingeatmet werden oder mit der Haut in Berührung kommen. Einige Arbeiter hatten jahrelang ohne ausreichende Schutzkleidung ausgediente Transformatoren zerlegt. Landete ihre Arbeitskleidung zu Hause im Wäschekorb, kamen auch ihre Familien damit in Kontakt.

Envio-Zentrale (Foto: Roland Weihrauch dpa/lnw)
Die Zentrale der Entsorger-Firma Envio in DortmundBild: picture-alliance/dpa

Dirk Neupert, damals Chef von Envio, machte derweil mit den Metallresten aus den Transformatoren gute Geschäfte, denn die Preise etwa für Kupfer waren in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Jetzt hat der Prozess gegen Neupert vor dem Dortmunder Landgericht begonnen. Er soll seine Arbeiter weder gewarnt, noch ausreichend geschult oder vor PCB geschützt haben, so wie es das Arbeitsschutzgesetz in Deutschland eigentlich verlangt.

Für die Einhaltung dieser Regelungen ist unter anderem die Gewerbeaufsicht zuständig, die in den jeweiligen Bezirksregierungen angesiedelt ist. Gutachter hatten Envio auch besucht, doch der Zeitpunkt war vorher angekündigt worden. Anonyme Anzeigen hatten zunächst offenbar keine Konsequenzen. Nach Bodenproben, die eine erhebliche Belastung der Umwelt angezeigt hatten, schloss die zuständige Bezirksregierung 2010 schließlich die Fabrik. Seitdem gilt das Gelände als kontaminiert.

Sind die Arbeiter selbst schuld?

Der Zusammenhang zwischen PCB im Blut und Krankheiten ehemaliger Mitarbeiter sei aber nicht erwiesen, sagt der Anwalt Ralf Neuhaus, der den ehemaligen Geschäftsführer Neupert verteidigt. Es könnte ja auch deren sonstige Lebensweise schuld sein. Thomas Kraus, Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin an der RWTH Aachen, erwidert: "Es ist sicherlich im Einzelfall zu prüfen, ob PCB der Auslöser für die Krankheit war." Viele der auftretenden Beschwerden könnten theoretisch auch andere Ursachen haben. Aber dass an den besonders hohen PCB-Werten die Firma Envio schuld sei, könne man beweisen, so Kraus: "Die Belastung, die bei der Firma Envio stattgefunden hat, ist eindeutig abzugrenzen von PCB-Belastungen, die jeder Mensch zum Beispiel über die Nahrung bekommt.“ Bei einigen Patienten habe er einen begründeten Verdacht, dass PCB aus der Firma Envio die Ursache für deren Krankheiten seien.

Porträt von Dirk Neupert, Ex-Chef der Firma Envio (Foto: Marius Becker dpa/lnw)
Verantwortlich für den Skandal? Ex-Envio-Chef NeupertBild: picture-alliance/dpa

Die Liste der Krankheiten, die durch eine hohe PCB-Belastung hervorgerufen werden können, ist lang. "Es wurden zum Beispiel Effekte am Nerven- und Immunsystem beschrieben“, erklärt Kraus. Er betreut auch die über 300 Betroffenen mit einem Team von Ärzten aus unterschiedlichsten Fachrichtungen. Weitere Folgen von hohen PCB-Werten, die Wissenschaftler bisher feststellen konnten: "Man weiß, dass PCB in den Hormonhaushalt eingreift. Schilddrüsenerkrankungen sind möglich, Leberfunktionsstörungen oder Hautveränderungen wie Chlor-Akne." Dass die Substanzen auch Krebs verursachen, konnte bis heute niemand beweisen - allerdings vermuten Ärzte auch dies, basierend auf Tier- und Zellversuchen.

An der Wand, im Lichtschalter, im Fisch…

PCB sind immer noch weit verbreitet, die Herstellung ist aber seit 2001 fast weltweit verboten. "Wenn ich festmachen soll, wie gefährlich PCB sind, dann brauche ich nur darauf zu verweisen, dass mehr als 160 Länder die Stockholmer Konvention ratifiziert haben", sagt der PCB-Fachmann Michael Müller. Er berät Firmen in Deutschland und auch im Ausland im Auftrag der Vereinten Nationen bei der Entsorgung PCB-haltiger Geräte oder der Sanierung von verseuchten Gebäuden. Mit der Stockholmer Konvention haben sich Deutschland und die anderen Länder dazu verpflichtet, bis zum Jahre 2025 alle PCB-haltigen Geräte außer Betrieb zu nehmen und sie bis 2028 zu entsorgen. "Das gängigste Verfahren hier in Europa ist die Hochtemperaturverbrennung", erklärt Müller. Bei der Erhitzung von PCB könne man die Moleküle zerstören, von alleine zersetze es sich nämlich nach einer bestimmten Zeit nicht.

Demonstrantin gegen Envio (Foto: Marius Becker dpa/lnw)
Demo vor dem Landgericht: Bündnis90/Die Grünen sehen bei Envio Profitgier am WerkBild: picture-alliance/dpa

Die Substanz zu recyceln oder zu zerstören ist ein großes Vorhaben, denn PCB erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit eine Blütezeit. Die künstlich hergestellte Flüssigkeit besitzt hervorragende elektrische Eigenschaften, brennt nicht und ist beständig. Sie steckte als Kühlflüssigkeit und Öl in Geräten oder auch in Farbe, Baumaterialien oder wurde in Fugen verputzt. Michael Müller hat PCB schon in zahlreichen Schulen, anderen öffentlichen Gebäuden oder alten Fabriken festgestellt. "In einem Fall war in einer alten Industrieanlage Hydraulikflüssigkeit ausgelaufen. Die Flüssigkeit war durch 40 Zentimeter Beton gesickert und fand sich noch in neun Metern unter der Erdoberfläche wieder."

Der Fall Envio ist allerdings eine traurige Ausnahme. Der Arbeitsmediziner Kraus bestätigt: "Die Situation, die wir bei Envio vorgefunden haben, ist bislang einzigartig. Wir haben in unserem Labor noch nie so hohe PCB-Belastungen im Blut gemessen.“ Ob der ehemalige Geschäftsführer vom Gericht schuldig gesprochen wird, ist nicht absehbar. Der Prozess wird die Justiz voraussichtlich Monate beschäftigen. Allein schon alle Unterlagen zu beschaffen, hat sich als problematisch erwiesen.