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Der Corona-Straßenkampf in Deutschland

8. Februar 2022

Tausende Deutsche protestieren seit Wochen gegen die Corona-Maßnahmen. Doch die "Spaziergänger" treffen auf Gegendemonstranten. Ein Ortsbesuch in Bonn.

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Protestzug der "Spaziergänger" durch die Bonner Innenstadt
Protestzug der "Spaziergänger" durch die Bonner InnenstadtBild: Oliver Pieper/DW

Vor wenigen Wochen noch war der Montag für Diana ein Tag wie jeder andere. Der ganz normale Uni-Stress in Corona-Zeiten, mit Online-Seminaren bis 16 Uhr. Seit Anfang Januar hat sich jedoch etwas geändert für die 21-jährige Politikstudentin, denn der erste Wochentag ist traditionell Protesttag der Gegner der Corona-Maßnahmen in Deutschland. Und Diana gehört jetzt zu denjenigen, die den sogenannten Spaziergängern die Stirn bieten.

"Vor ein paar Wochen hätte ich noch gesagt, dass ich diese Proteste traurig finde. Jetzt bin ich einfach nur noch wütend", sagt Diana. "Diese 'Spaziergänger' bezeichnen sich als hilflose, zweifelnde und normale Bürger, aber da sind auch Rechtsradikale dabei. Und niemand kann mir erzählen, dass sie nicht wüssten, mit wem sie da unterwegs sind."

Deutschland Bonn Diana, Politikstudentin aus Bonn
Politikstudentin Diana: "Die 'Spaziergänger' bestehen auf Selbstbestimmung und Freiheit - schränken die der Mehrheit aber ein"Bild: Privat

Wer ein Gefühl dafür bekommen will, wie tief sich der Riss durch die deutsche Gesellschaft in der Corona-Pandemie zieht, muss sich nur an einem Montagabend in das Zentrum einer deutschen Stadt wie Bonn begeben. Der Marktplatz der früheren Bundeshauptstadt vor dem imposanten Rathaus ist bei einsetzender Dunkelheit aufgeteilt wie vor dem Anstoß eines Fußballspiels zwischen zwei rivalisierenden Mannschaften.

Laute Minderheit gegen schweigende Mehrheit

Hier die Menschen, die gegen die Corona-Maßnahmen der Politik demonstrieren, und häufig nicht davor zurückschrecken, zusammen mit Rechten, Verschwörungsideologen und radikalen Impfgegnern zu marschieren - und dort eine Gegenbewegung, welche die Straße und die Meinungshoheit nicht kampflos aufgeben will. Dazwischen, quasi als Schiedsrichter: ein massives Polizeiaufgebot.

In Deutschland sind drei von vier Menschen geimpft, die Quote der zweifach Geimpften liegt mit 74,3 Prozent kaum niedriger, und eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt trotz zunehmender Kritik die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Betritt man allerdings den Bonner Marktplatz, könnte man den Eindruck gewinnen, das Zahlenverhältnis sei genau umgekehrt: die "Spaziergänger" sind deutlich in der Überzahl.

Gegendemonstration in der Bonner Innenstadt
Zahlenmäßig unterlegen: Gegendemonstration in der Bonner InnenstadtBild: Oliver Pieper/DW

Diana, die nur ein Semester im Präsenzunterricht studieren konnte, wundert sich nicht wirklich darüber: "Es ist eben einfacher, Menschen mit Angst und einem Feindbild wie 'Die Politiker da oben' zu mobilisieren, als mit Solidarität und komplizierter Wissenschaft. Auch wegen der Infektionsgefahr kommen viele nicht zu den Gegendemos. Die laute Minderheit, die sich bei diesen Spaziergängen zeigt, hält sich für eine Mehrheit, und versucht die Gesellschaft zu spalten."

Scheinbar harmloser Protest mit wütenden Parolen

Auch an diesem Montagabend sind wieder rund Tausend Demonstranten gekommen, die Gegner der Corona-Maßnahmen schlängeln sich wie ein langer Wurm durch die Bonner Innenstadt, bis zur Abschlusskundgebung im Hofgarten. Eine bunte Mischung aus Jung und Alt, aus Menschen mit und ohne Maske, aus "Spaziergängern", die allein unterwegs sind, und aus Familien mit Kind auf den Schultern und dem Hund an der Leine.

Marius Müller-Westernhagens "Freiheit" dröhnt aus den Lautsprechern, genauso wie John Lennons Friedenshymne oder auch Karnevalsmusik. Die Demonstration kommt betont harmlos daher, wenn da nicht die kleinen gelben Fähnchen mit der Aufschrift "Impfzwang - nein danke" wären, als auch die fast kollektive Abneigung, Journalisten ein Interview zu geben, sowie die Parolen der Demonstranten, die per Megafon und im Chor mit mächtig Wut im Bauch skandieren: "Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung" oder auch "Widerstand - für ein freies Land". Im Dezember wurden die Proteste noch von einem Pulk von Rechtsradikalen an der Spitze des Zuges angeführt, bestätigt die Polizei, mittlerweile laufen einige von ihnen in der Menge mit.

Zankapfel Impfpflicht

Erwin ist seit einigen Monaten Rentner und gehört zu den Bonner "Spaziergängern" der ersten Stunde. Er trägt vorschriftsmäßig eine Maske. Geimpft sei er auch, sagt er. Was also bringt einen Mann im Ruhestand dazu, Montag für Montag in Bonn auf die Straße zu gehen?

"Ich leugne das Virus nicht, mir geht es vor allem darum, die Impfpflicht zu verhindern. Sie wäre ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Außerdem haben wir im Vergleich zu unseren Nachbarländern mit die härtesten Corona-Maßnahmen, die außerdem paradox und absurd sind, und bei denen keiner mehr so richtig durchblickt."

Paradox ist allerdings auch, dass es viele der Beschränkungen gar nicht mehr geben würde, hätten sich alle Demonstrierenden impfen lassen. Die deutsche Politik scheut sich aber wegen der niedrigen Impfquote hierzulande, viele Maßnahmen zurückzunehmen. Ergebnis: die "Spaziergänger" schauen neidisch nach Dänemark und Großbritannien, die dank ihrer hohen Impfquote großzügig geöffnet haben.

Oft fällt der Name von Karl Lauterbach. Der Gesundheitsminister müsse von der Impfpflicht Abstand nehmen, um die Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Die Stimmen aus den Pflegeinrichtungen und Krankenhäusern zeigten ja schon, dass eine Impfpflicht wegen des Personalmangels keinen Sinn mache, heißt es.

Deutschland Demonstration der Gegner von Corona-Maßnahmen in Bonn
"Abstand zu Antisemitismus und Verschwörungsscheiß" - Proteste der linken Antifa gegen die "Spaziergänger"Bild: Oliver Pieper/DW

Den Vorwurf, mit den Rechten gemeinsame Sache zu machen, der ihn auf dem "Spaziergang" auch immer wieder lautstark von linken Demonstranten der Antifa entgegenschallt ("Ohne Nazis wärt Ihr nur zu dritt"), will Erwin so nicht stehen lassen. "Ich distanziere mich von den rechten Organisationen, die versuchen, uns zu manipulieren und missbrauchen. Das hier ist ein gutbürgerlicher Protest."

Proteste auch in einer Stadt, in der die AfD kein Land sieht

Jessica Rosenthal mag das nicht glauben. Vor zehn Jahren zog sie fürs Studium nach Bonn, war hier später Referendarin an einer Gesamtschule und Direktkandidatin für den SPD-Unterbezirk Bonn bei der Bundestagswahl. Die alte Hauptstadt und ihre Bürger kennt Rosenthal, die seit einem Jahr auch Vorsitzende der Jugendorganisation der SPD ist, also wie ihre Westentasche.

Deutschland Demonstration der Gegner von Corona-Maßnahmen in Bonn
Jede Impfung schützt auch die Anderen, sagt Juso-Chefin Rosenthal: "Wie egozentrisch muss man sein, wenn man das nicht sieht?"Bild: Oliver Pieper/DW

"Mein Adrenalinspiegel geht schon ziemlich nach oben, wenn ich diese Proteste sehe. Das ist eine Verschiebung nach rechts, mit Verschwörungsmythen, die auch antisemitisch geprägt sind", sagt die Juso-Chefin und blickt über den Marktplatz. "Es gibt den Versuch, das normal werden zu lassen, weil man den Staat als Autorität nicht mehr akzeptieren möchte. Was auch wiederum ganz stark im rechten Gedankengut verankert ist."

Sie hat gerade eine Rede an die Schar der Gegendemonstranten gehalten, in Bonn wechseln sich mittlerweile Grüne, Linke und SPD im Wochenrhythmus ab, heute waren die Sozialdemokraten dran. Es ist der Versuch, den "Spaziergängern" nicht das Feld zu überlassen, in einer 330.000-Einwohner-Stadt mit einer grünen Oberbürgermeisterin und einer AfD, die bei der vergangenen Bundestagswahl gerade einmal 4,2 Prozent der Zweitstimmen erzielte.

"Die Aggressivität hat schon drastisch zugenommen", stellt Juso-Chefin Rosenthal fest. "Viele, glaube ich, kann man nicht mehr zurückholen. Aber es braucht den klaren Widerspruch der Mehrheit. Und das ist das, wofür ich werbe. Wir müssen klar machen, dass diese Diskursverschiebung keinen Platz in Deutschland hat. Wir haben ja gesehen, wo das hinführt."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur