Der Adventskranz
30. November 2024Licht breitet sich aus.
Die Adventszeit beginnt. In diesem Jahr sozusagen doppelt, denn der 1. Dezember fällt auf den ersten Advents-Sonntag. Wir dürfen das erste Türchen am Adventskalender öffnen und die erste Kerze am Adventskranz anzünden.
Laut einschlägiger Webseiten sind die Adventskranz-Trends für 2024: „schlicht-elegant“. Zum Bespiel ein Kranz aus duftenden grau-grünen Eukalyptus-Blättern mit rosa Kerzen. Oder „natürlich-nachhaltig“. Zum Beispiel ein Kranz aus Zweigen, Zapfen, Trockenblumen mit selbstgezogenen Kerzen.
So oder so: Der Adventskranz ist ein Hingucker in der Vorweihnachtszeit. Für jeden Geschmack und Einrichtungsstil. Aber was hat es eigentlich auf sich mit der Adventskranz-Tradition?
Eine Spurensuche: Vermutlich gab es bereits im Mittelalter Vorläufer des Adventskranzes. Wenn Knechte und Mägde im Winter nicht mehr auf den Feldern arbeiten mussten, brachten sie ihren Karren in die Scheune, bauten ein Wagenrad ab, umwickelten es mit Tannengrün und hängten es unter die Decke.
Das Rund des Rades erinnerte in dunkler Zeit an die Sonne, die irgendwann wieder scheinen würde und das Grün aus der Erde hervorlockt.
Der eigentliche Adventskranz wurde 1839, vor 185 Jahren, erfunden vom Hamburger Pastor Johann Hinrich Wichern.
Wichern, geboren 1808, verliert mit 15 seinen Vater und muss von da an als Hilfslehrer für den Lebensunterhalt der Familie mit sechs Geschwistern sorgen. In der zunehmend industrialisierten Großstadt Hamburg verschärft sich das soziale Elend, gerade auch für Kinder.
Johann Hinrich studiert Theologie. Das Schicksal der vernachlässigten Kinder lässt ihn nicht los. So eröffnet er 1833 einen Zufluchtsort für Kinder aus Hamburgs Armenvierteln, das „Rauhe Haus“. Hier finden sie Geborgenheit und Liebe, lernen Lesen und Schreiben. Zum gemeinsamen Leben, das Wichern zusammen mit seiner Frau Amanda gestaltet, gehört beten und arbeiten, aber auch spielen und Feste feiern.
In der Zeit vor Weihnachten ist die Ungeduld der Zöglinge groß. Um ihnen das Warten auf das Christfest zu erleichtern und nebenbei auch das Zählen mit ihnen zu üben, wird der sozial engagierte Pastor kreativ: An einem Wagenrad-großen Holzkranz befestigt er 24 Kerzen – vier dicke weiße für die Adventssonntage und dazwischen 20 kleine rote, für jeden Wochentag eine. Den Kranz hängt er an die Decke.
Wie in diesem Jahr ist auch im Jahr 1839 der 1. Dezember zugleich der erste Adventssonntag. Erwartungsvoll versammeln sich die Kinder im Betsaal des „Rauhen Hauses“. Pastor Wichern entzündet die erste weiße Kerze am Adventskranz und beschreibt das später so: „Was gucken die Knaben- und Mädchenaugen so lustig empor? Es ist nichts als ein einfacher Holzkranz. Und auf dem Kranze das erste Licht, weil heute der erste Adventstag ist. Und morgen brennen schon zwei. Und je mehr Lichter brennen, desto näher rückt Weihnachten und desto froher werden Knaben und Mädchen…“
Wie an-schaulich: Licht im Dunkel – langsam breitet es aus, immer weiter.
Freude – gerade für die, die wenig Grund dafür haben. Ab 1860 bekommt der Adventskranz sein grünes Kleid aus Tannenzweigen.
Ab den 1950er Jahren verbreitet er sich immer mehr, in vielen Ländern. Er ist heute deutlich kleiner und hat nur noch vier Kerzen. Denn wer kann sich schon ein „Wagenrad“ ins Wohnzimmer hängen ... Aus dem kleinen Anfang mit Wicherns Rettungshaus für Kinder ist die große diakonische Stiftung „Das Rauhe Haus“ geworden mit heute rund 100 Einrichtungen in Hamburg und Umgebung. Dort ist der Wichernsche Adventskranz immer noch präsent. So gibt es für die Kinder der Wichern-Grundschule regelmäßig eine Andacht vor dem großen Schul-Adventskranz. Und immer am Ersten Advent wird bei einem kleinen Festakt ein Wichern-Kranz im Hamburger Rathaus aufgehängt. Der Original-Holz-Adventskranz ist leider unauffindbar. Aber Spuren seiner Botschaft finden sich bis heute. Besonders für Menschen, die Schlimmes erlebt haben und Licht im Dunkeln brauchen. Zum Beispiel meine Freundin Karin:
Auf schreckliche Weise hat sie ihren Mann verloren. Während einer gemeinsamen Autobahnfahrt hatte er einen Herzinfarkt und war sofort tot. Traumatisch-dumpfe Dunkelheit für die Witwe. Zeit verging. Advent nahte.
„Kann ich diese Zeit überhaupt feiern? Und wenn ja, wie? So wie früher mit einem großen Adventskranz an unserm hohen schmiedeeisernen Ständer, den wir beide so mochten?“, fragte sie sich im Jahr danach.
„Ich bewegte diese Frage hin und her und konnte mich einfach nicht freuen. Denn vor dem Ersten Advent lag der Totensonntag und warf einen tiefen Schatten. Liegen diese beiden Sonntage nicht viel zu nah beieinander?
Welch ein Kontrast! Mein Herz war schwer. Aber dann kam wie ein Lichtstrahl die Idee, die sich zu einem besonderen JA entwickelte. JA, ich werde wieder so einen großen Adventskranz schmücken. Aber er soll schon zu Totensonntag aufgestellt werden. Dann wird die erste Kerze brennen! Denn das Licht ist stärker als der Tod. Das will ich feiern. Daran glaube ich.“ Der Adventskranz ist mehr als ein dekorativer Hingucker.
Zur Autorin:
Andrea Schneider (Jahrgang 1955) hat an der Universität Hamburg Evangelische Theologie und Germanistik studiert. Nach einer Zeit als Lehrerin an einem Hamburger Gymnasium wurde sie zur Pastorin ordiniert und war ab 1996 Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Freikirchen (VEF). Bis zum Ruhestandsbeginn im Juni 2020 arbeitete sie auch an der Evangelisch-Freikirchlichen Akademie Elstal als Trainerin für Gottesdienstgestaltung und Moderation. Von 1989 bis 2002 war sie „Wort zum Sonntag“-Sprecherin in der ARD. Nach wie vor gestaltet sie gerne kirchliche Sendungen im Rundfunk. Andrea Schneider lebt mit ihrem Mann in Oldenburg.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.