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Der überflüssige Tod

Thomas Hajduk11. September 2006

Selbstmord ist ein globales Massenphänomen. Gründe und Häufigkeiten unterscheiden sich regional, tabuisiert wird er weltweit. Dabei ist er verhinderbar.

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So weit muss es nicht kommenBild: Bilderbox

Nach dem französischen Existenzphilosophen Albert Camus ist der Selbstmord das wichtigste Problem der Philosophie. Das ist eine Untertreibung: Angesichts von weltweit etwa einer Million Selbstmorde pro Jahr – Tendenz: steigend – ist Selbstmord weitaus mehr als ein Thema für Denkakrobaten. Oder, wie Professor Brian Mishara, Präsident der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention (IASP), es ausdrückt: "Selbstmord ist ein größeres öffentliches Gesundheitsproblem."

Daher fand in diesem Jahr bereits zum vierten Mal der Weltsuizidpräventionstag statt. Mit Veranstaltungen auf der ganzen Welt wurde der durch Selbstmord Umgekommenen und ihrer Hinterbliebenen gedacht, aber auch an die Häufigkeit dieses überflüssigen Todes erinnert. "In einer Zeit, in der wir uns mit globaler Gewalt, Terrorismus und Totschlag beschäftigen, ignorieren wir oftmals, dass sich weltweit mehr Menschen selbst töten als in allen Kriegen, Terrorakten und sonstiger Gewalt umkommen", sagte Mishara.

11.000 Selbstmorde in Deutschland

Friedhof
Jedes Jahr 11.000 zu vielBild: dpa

In Deutschland wurde der Weltsuizidpräventionstag zum dritten Mal begangen. Eine zentrale, konfessionsübergreifende und mehr als ein Dutzend regionaler Gedenkveranstaltung waren den 11.000 bis 12.000 Menschen gewidmet, die in Deutschland jährlich Selbstmord begehen – mehr als durch Verkehrsunfälle ums Leben kommen. Obwohl Deutschland laut einer WHO-Selbstmordstatistik mit 20,4 Männern und 7 Frauen pro 100.000 Einwohner im europäischen Mittelfeld liegt und die niedrigste Suizidquote seit Mitte der 1970er-Jahren hat, sei auch hierzulande das Verhältnis zum Selbstmord "gebrochen", kommentiert Georg Fiedler von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Noch immer wirke die einst religiöse Ächtung des Selbstmordes nach und auch "im psychosozialen Bereich" werde er tabuisiert. Insbesondere im Alter nehme er aber zu und sei "gefährlich", wie Fiedler warnt: "Die Entschlossenheit bei diesen Gruppen ist höher."

Die Gründe für Selbstmord seien indes unterschiedlich, weswegen die einfache Gleichung, wer Selbstmord begehe, sei psychisch krank, zu kurz greife. Zwar gehörten psychische Erkrankungen, allen voran Depressionen, laut der IASP zu den häufigsten Ursachen des Selbstmordes; sie mündeten aber nicht zwangsläufig in ihm. Ebenso seien gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ursachen zu beachten.

"Gorbatschow-Effekt"

Bildgalerie Kaliningrad Königsberger Wodka
Treibstoff für SelbstmörderBild: DW

Osteuropäische Länder und Russland führen die weltweite Selbstmordstatistik für 1999 an: In Russland begingen 63, in Estland 56, Weißrussland 61 und Litauen gar 74 von 100.000 Einwohnern Selbstmord. Das hängt nach einer Studie der TU Dresden mit der wirtschaftlichen Lage als auch dem sozialen Prestigeverlust nach dem Zusammenfall der Sowjetunion zusammen. Ebenso aber wird der hohe Alkoholkonsum verantwortlich gemacht. Russland spiegelt das besonders augenfällig wider: Wie in anderen Ländern bringen sich auch dort mehr Männer als Frauen um, allerdings ist die sehr hohe Quote von 69,3 Männer im Vergleich zu 11,9 Frauen (WHO-Statistik 2002) im Wesentlichen auf den Alkoholmißbrauch durch Männer zurückzuführen. Mitte der 1980er dagegen war die Selbstmordquote infolge politischer Liberalisierungen und eines Alkoholverbots stark zurückgegangen – Experten nennen das den "Gorbatschow-Effekt".

In anderen Weltregionen wie der Karibik oder Lateinamerika ist die Selbstmordquote laut offiziellen Statistiken gleich Null oder sehr niedrig. Hierfür Gründe zu finden, ist schwierig, weswegen gerade die Kultur als Platzhalter dient. "Mögliche Erklärungen sind spekulativ", kommentiert Fiedler das Problem.

Licht am Ende des Tunnels

Der Kampf gegen den Selbstmord und seine Folgen ist trotz teils spekulativer Ursachenforschung möglich. In Deutschland geht es dabei zum einen um die Ausweitung und Verbesserung von Hilfsangeboten wie der psychosozialen Versorgung und der Therapie mit Antidepressiva. Zum anderen verfolgt die Prävention eine Enttabuisierung und Sensibilisierung für das Thema. Dies bedeutet, die kulturellen Ursachen des Selbstmordes auf lange Sicht zu überwinden. Ein Beispiel dafür ist die "Empfehlung an die Medien zur Berichterstattung über Suizide" der DGS. Sie habe laut Fiedler dazu geführt, dass große Boulevardzeitungen nicht mehr spektakulär über Selbstmorde an Bahngleisen berichten und so den Nachahmungseffekt fördern.

Selbstmord ist kein individuelles Problem und Präventivmaßnahmen werden nur dann erfolgreich sein, wenn die Gesellschaft als Ganzes sich mit ihnen beschäftigt. Sie ist es auch, die letztlich die Folgen zu tragen hat: Nach Angaben der WHO hat jeder Selbstmord Folgen für durchschnittlich sechs weitere Personen.