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Demokratie im Irak ist fernes Ziel

31. Januar 2005

Trotz Terrors haben die Iraker gewählt: Hat die Demokratie nun eine Chance? Der Friedensforscher Klaus Jürgen Gantzel beschreibt die notwendigen Bedingungen für Demokratie. Sie sind noch längst nicht erreicht.

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Nach Jahrzehnten der Unterdrückung wurde die irakische Wahlbevölkerung am 30. Januar 2005 zu den Urnen gerufen, um eine Staatsführung zu wählen, ja überhaupt erst einen legitimen Staat und diesen zugleich als Demokratie zu etablieren. Diesem Versuch, zu dem es aktuell keine Alternative gibt, ist aller Erfolg zu wünschen – allein, es überwiegen die Zweifel.

Funktionsfähige und stabile Demokratie, zugleich strukturelle Voraussetzung für inneren Frieden, erwächst nicht in erster Linie aus politischen Wahlen. Das Hexagon-Modell des Bremer Friedensforschers Dieter Senghaas postuliert sechs untereinander verknüpfte Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen.

1. Staatliches Gewaltmonopol

Das staatliche Gewaltmonopol, die Entwaffnung der Bürger, ist die primäre Bedingung aller Staatlichkeit überhaupt. Mit 13 zumeist aggressiven inneren und äußeren Kriegen seit 1945 gehört der Irak nach Großbritannien, Indien und den USA zu den kriegerischsten aller Staaten. Erreicht hat er dabei nichts – im Gegenteil! Die von Saddam Hussein, auch persönlich, zur Schau getragene militärische Potenz erwies sich als Maulheldentum. Die Befriedungsfunktion des Gewaltmonopols war hingegen zur maßlosen Ausrottung aller Opposition pervertiert worden.

Beim notwendigen Gewaltmonopol geht es aber nicht bloß um die Kontrolle der Gewaltmittel, sondern auch um dessen Legitimität. Diese erfordert Staatsbewusstsein, die Loyalität der Bürger zu ihrem Staat. Die hat es im Irak nie gegeben. Hier ist vom künftigen Regierungssystem eine hohe Integrationsleistung gefordert.

Die Aussichten sind düster: Die eilig rekrutierten Sicherheitskräfte sehen sich einem terroristischen, frontal nicht fassbaren, auch in sich heterogenen Feind gegenüber, mit dem bislang nicht einmal die hochgerüsteten Kräfte der USA und ihrer "Willigen" fertig werden. Dessen Intransparenz und Heterogenität speist sich aus divergierenden Interessen, bis hin zu kriminellen, aber mehr noch aus substaatlichen Loyalitäten zu konkurrierenden religiösen Richtungen, ethnisch-regionalen Gruppierungen und Familienclans.

2. Rechtsstaatliche Ordnung

Der Aufbau einer rechtsstaatlichen Ordnung erlitt schon zu Beginn schwere Legitimitätsschäden. Zunächst, indem die US-amerikanischen Besatzer unsägliche irakische Plünderungen, selbst von Krankenhäusern und staatlichen Kunstschätzen, zuließen. Sodann durch die Unfähigkeit der Besatzer, die terroristischen Anschläge und Geiselnahmen zu unterbinden. Schließlich durch die widerlichen Folterungen gegenüber Gefangenen. Wie kann da Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit entstehen? Und selbst wenn es der neuen Regierung und Volksvertretung gelingen sollte, rasch ein modernes Gesetzeswerk zu schaffen, bleibt immer noch die mühselige Aufgabe, eine kompetente und handlungsfähige Judikative aufzubauen, die der Bevölkerung die Überzeugung vermittelt, sich auf Recht und Gesetz verlassen zu können. Unter anderem wird es darauf ankommen, der mittelalterlichen Scharia keinen Raum zu geben und die Korruption nicht ausufern zu lassen.

3. Individuelle Affektkontrolle

Von Regierenden wie Regierten muss individuelle Affektkontrolle erlernt werden, also die Verinnerlichung äußeren, zum Beispiel polizeilichen Zwangs. Sie erwächst nur aus langen Entwicklungen. Geschichte und Gegenwart des Irak waren bislang nicht dazu angetan, die individuelle Disziplinierung von Leidenschaften (z.B. Rache, Missachtung menschlichen Lebens, fundamentalistischer Fanatismus) zu fördern.

4. Demokratische Teilhabe

Das Volk bedarf weitgehender demokratischer Teilhabe. Wie kann das geschehen in einer Gesellschaft, die höchst fragmentiert ist? Da ist vor allem die zahlenmäßig weit überlegene, bislang unterdrückte und diskriminierte Gruppierung der arabischen Schiiten, dann die große Minderheit der Sunniten, die nun um ihre bisherigen Privilegien fürchten muss und schließlich die regional ziemlich geschlossene Ethnie der Kurden mit einer zusätzlichen eigenen Volksvertretung. Alle drei zerfallen wieder in zahlreiche politische Parteien und Ideologien. Unter Bedingungen der Verhältniswahl wird es kaum gelingen, eine stabile, handlungsfähige Regierung zu schaffen, womit die formale politische Partizipation zu einer Farce würde und nationalstaatliche Loyalität nicht wachsen könnte.

5. Soziale Verteilungsgerechtigkeit

Der sensibelste Punkt ist die Herstellung sozialer Verteilungsgerechtigkeit. Sie erfordert eine Wachstumsökonomie, eine breite, vor allem gewerbliche Mittelschicht und eine ausgleichende staatliche Steuer- und Sozialpolitik. Nun ist der bevölkerungsreiche Irak ein so genannter Rentierstaat. Er lebt in erster Linie von einer Bodenrente, d.h. vom Erdöl, kontrolliert vom Staat oder Großkonzernen sowie der OPEC. Wie wird diese Rente verteilt bzw. investiert werden? Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft geht stetig zurück, wie überall. Die verarbeitende Industrie liegt darnieder, bleiben also zunächst Handel und Dienstleistungen als Hauptquellen des Sozialprodukts. Welche Chancen wird eine rationale Wirtschafts- und Sozialpolitik in dem angedeuteten Interessen-, Ideologien- und Parteiengeflecht haben?

6. Konstruktive politische Konfliktkultur

Damit dieses Geflecht nicht in rigide Partikularinteressen zerfällt oder gar ins Chaos führt, müssen die Iraker in ihrem Staat eine konstruktive politische Konfliktkultur entwickeln – als emotionale Basis für Demokratie. Das geht nur, wenn es Sicherheit gibt, Recht und Gesetz regieren, die Leidenschaften gezügelt werden und die politische mit effizienter wirtschaftlicher Teilhabe einhergeht.

Klaus Jürgen Gantzel ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft (Internationale Beziehungen und Friedensforschung) der Universität Hamburg. Er ist Gründer und langjähriger Leiter der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung (FKRE) und der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF)