Degrowth: Zeit, die Welt zu verändern
26. Februar 2018Christiane Kliemann ist ein umgänglicher Mensch. Aber die 50-Jährige hat auch ihre Prinzipien: "Plastikbecher in der Kantine! Das geht gar nicht." Sie kritisiert nicht nur, sondern schiebt sofort auch einen Verbesserungsvorschlag nach: "Warum hat nicht jeder Mitarbeiter seinen eigenen Becher, der sich am Kaffee-Automaten auffüllen lässt?" Technisch ist das sogar längst möglich. Die Maschine erkennt, ob eine Tasse unter der Düse steht oder das Gerät einen Becher bereitstellen muss.
Christiane Kliemann verzichtet möglichst auf Plastik, hat vor Jahren das Auto abgeschafft, lehnt Flugreisen ab und konsumiert vor allem regionale Lebensmittel. Der größte Einschnitt war jedoch die Kündigung einer gut dotierten Stelle beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen (UNFCCC). Die vierfache Mutter zog aus einem großzügigen Haus in bevorzugter Lage vorübergehend in einen Bauwagen und lebte eine Zeit in einem Ökodorf.
"Ich glaube, dass jeder Mensch das tiefe Bedürfnis verspürt, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Und jeder hat den Wunsch, etwas sinnvolles zu seiner Gesellschaft, seiner Umwelt beizutragen."
Raus aus der vermeintlichen Komfortzone
Mit idealistischer Absicht hatte sich die frühere Journalistin bei den UN beworben, stellte allerdings bald fest, dass dort bestimmte Themen tabu waren. Zum Beispiel hätten die Kollegen bei der UN nie in Frage gestellt, ob das "Wirtschaftswachstum und kapitalistische Strukturen" die Menschheit und Umwelt voranbringen.
Ein Schlüsselerlebnis hatte sie 2012. Die Staatengemeinschaft zog in Rio Bilanz über einen 20 Jahre währenden UN-Umweltprozess mit den Themen Klimawandel und Artenvielfalt. "Erschreckend für mich war die Erkenntnis, dass sich die Zustände in allen Bereichen verschlechtert hatten. Doch anstatt zu sagen: Wir haben Fehler gemacht und schlagen jetzt neue Wege ein, verwiesen die Entscheidungsträger auf die Zukunft, während sie das schädigende System beibehalten haben. Bis heute."
Kognitive Dissonanz
Als Beispiel nennt die Umwelt-Aktivistin die ständig steigenden Emissionen und die Abwrackprämie der Bundesregierung 2009. Damals hatten Autobesitzer eine staatliche "Umwelt"-Prämie erhalten, wenn sie ihren alten PKW verschrotten ließen. Das sollte Anreize zu schaffen, für den Kauf eines neuen umweltfreundlicheren Modells. "Es wurde viel Schrott produziert, Energie und Ressourcen wurden zur Produktion der Neuwagen verschwendet." Seither wurden mehr größere SUV´s zugelassen als jemals zuvor - echte Sprit-Schlucker.
"Und die Leute legen immer größere Distanzen zurück, um zur Arbeit zu fahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen", kritisiert die Umwelt-Aktivistin, "obwohl keiner schlechte Luft einatmen oder im Stau stehen möchte. Die Nachteile werden der Allgemeinheit und der Natur aufgebürdet." Wissenschaftler bezeichnen das Phänomen, Unangenehmes wie Stress oder Zeitnot zu verdrängen oder schönzureden, als kognitive Dissonanz.
Wachstumsdogma als Ursache des Hamsterrad-Prinzips
Andererseits lasse die Angst vor einem Zusammenbruch der Märkte und damit der Wirtschaft die Beteiligten immer schneller agieren, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Denn das Beispiel Griechenland zeige, dass Armut und soziales Chaos drohen, wenn ein auf Wachstum ausgelegtes System einfach nicht mehr wächst.
Deshalb könne ein Wachstumsstopp nicht die Lösung sein, sondern eine komplette Systemtransformation. "Degrowth" oder "Postwachstumsökonomie" nennt Christiane Kliemann die Ansätze für einen Systemwechsel. Dieser soll allgemeine Bedürfnisse, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit berücksichtigen.
Degrowth als Gegenkraft zum stetigen Wachstum
Um Ressourcenmangel, Umweltverschmutzung und Armut entgegenzuwirken, fordern Anhänger der Degrowth-Bewegung unter anderem eine stärkere Besteuerung von umweltunfreundlichen Flugreisen und des Energie- und Rohstoffverbrauchs überhaupt. Steuererleichterungen für Firmenwagen und Pendlerpauschalen möchten sie abschaffen, den öffentlichen Nahverkehr und Radwege ausbauen.
Im Gegenzug sollte die lokale Wirtschaft steuerlich und rechtlich gefördert werden, um Anreize für kurze Transportwege und eine Produktion in nahen und ländlichen Gebieten zu schaffen, sagen die Aktivisten. Flächenversiegelung sollte gestoppt, Grünflächen sollten erhalten werden. Ein weiteres Postulat ist, Umweltbildung mehr Gewicht in KiTas und Schulen zu verleihen.
Maßnahmen, die ökologisch und sozial notwendig sind, glaubt Christiane Kliemann, hätten als Nebeneffekt möglicherweise eine Schrumpfung der Wirtschaft zur Folge, da viele Wachstumsbereiche besonders umweltschädlich und sozial unverträglich sind. "Wir schaffen den Umbruch aber nur, wenn wir uns vom Konkurrenzdenken verabschieden, solidarisch und kooperativ denken lernen, daran orientiert, dass wir es nur alle zusammen auf diesem Planeten schaffen können."
Durch Tiefenökologie Gefühle erfahrbar machen
Christiane Kliemann macht zunehmend ausholende Bewegungen mit den Armen. Sie spricht aus Überzeugung über die globalen Herausforderungen wie Klimaveränderung, Artensterben und soziale Ungerechtigkeit. In der westlichen Welt nehmen viele diese noch abstrakt war. Und Menschen begegnen diesen Herausforderungen mit Gefühlen wie Unverständnis und Ohnmacht, sagt sie.
Kliemann gibt Seminare in Tiefenökologie und vermittelt darin Techniken, um solchen Gefühlen zu begegnen. "Wir sind süchtig nach Konsum, nach immer mehr Ablenkung. Keine Reise ist zu weit, und das neueste Smartphone muss unbedingt erworben werden. Aber was liegt unter dieser Sucht?" Kliemann versucht, die Teilnehmer zu sensibilisieren, die eigenen Widersprüche zu erkennen, Mitgefühl zu entwickeln für die Erde und die Menschen, die unter den Nachteilen leiden, die unsere Produktions- und Konsummuster nach sich ziehen.
Sie will animieren, nach der Sinnhaftigkeit des Tuns zu fragen: "Wirkliche Veränderungen geschehen nur über Betroffenheit, Freunde, über Emotionen." Kliemann philosophiert über die Utopie einer vom Wachstum befreiten Wirtschaft: "Was bringt es, die 150ste Joghurt-Sorte auf den Markt zu bringen, sie massiv zu bewerben, um damit dem Konsumenten zu vermitteln, diesen unbedingt kaufen zu müssen?"
Die ehemalige UN-Mitarbeiterin glaubt, die meisten Menschen wären traurig über solch eine Abhängigkeit, machten sie sich ihre eigenen Gefühle erst einmal bewusst: "Würde es uns nicht glücklicher machen, hätten wir mehr Zeit für stabile soziale Beziehungen und Netzwerke?" Es bleibt eine rhetorische Frage.
Die Vision, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten
Christiane Kliemann hat sich längst entschieden, kettet ihr Rad los und beschließt spontan, den längeren Weg nach Hause zu nehmen. Sie hat Zeit und die Freiheit, darüber zu entscheiden.
Beim Aufsteigen aufs Fahrrad sagt sie noch, sie wisse um die Grenzen ihres Handlungsspielraumes: "Systemischer Wandel kann nur passieren, wenn ganz viele Leute und Gruppen, in verschiedenen Bereichen und Ebenen, gleichzeitig Dinge anders machen, und diese verhalten sich gleichzeitig so, dass Neues entsteht." Auf die Politik will Kliemann dabei nicht bauen. Sie hofft, dass sich Klimawandel und Artensterben durch eine neue Dynamik, durch Selbstorganisation der Zivilgesellschaft, doch noch aufhalten lassen.