Das Woodstock für Hacker
15. August 2011500 Hacker sitzen dichtgedrängt auf verbogenen Klappstühlen in einem dunklen 50 mal 20 Meter großen ehemaligen Hangar für russische Militärflugzeuge, dessen einst als Tarnung gedachte Sandschicht inzwischen mit viel Gras und kleinen Bäumen bewachsen ist. Die Öffnung an der Stirnseite lässt nur wenig Licht und Luft herein. Drinnen ist es stickig und feucht. Die letzten drei Tage hat es viel geregnet im brandenburgischen Finowfurt, drei Reihen hinter mir hat gerade jemand Zwiebeln gegessen und der junge Spanier neben mir trägt sein Outfit schon mindestens einen Tag zu lange.
Alle warten gespannt auf einen Vortrag zum Thema "Learning Secrets by Watching People". Viele tragen schwarze T-Shirts mit einem Motto-Aufdruck wie "No Pictures", "Read Mail, really fast" oder "I come in Peace", dazu knielange Hosen mit Seitentaschen. Hier und da sieht man von Mückenstichen übersäte Waden - Mücken sind eine unschöne Begleiterscheinung deutscher Sommernächte, wenn man sie im Freien verbringt.
Ich packe meinen kleinen schwarzen Notizblock aus. In diesem Augenblick treffen mich überraschte Blicke von allen Seiten. Hier hat keiner einen Stift in der Hand oder einen Block auf den Knien, sondern Laptops, Notebooks, Netbooks oder E-Reader. Ich bin enttarnt als analoger Dinosaurier. Um meine Peinlichkeit zu überspielen, greife ich schnell in meine Tasche und krame mein iPhone hervor. Seht her, auch ich lebe digital! Mein rot angelaufenes Gesicht kann in dem dunklen Raum zum Glück niemand sehen. Ich schaue nach oben und sehe über den Köpfen eine Discokugel neben einem Scheinwerfer hängen, was mich kurz irritiert. Doch was hatte der Ordner am Einlass gesagt? Wir machen hier auch Urlaub und feiern. Und dabei wollten sie nicht gestört werden, deshalb seien eigentlich auch keine Fotos erlaubt. Der Chaos Computer Club - Verfechter eines freien Informationsaustausches in der digitalen Welt - gibt sich bei seinem größten Jahresevent verschlossen und pocht auf die Einhaltung von Regeln. Und wenn nicht ... er habe schon 36 Stunden nicht geschlafen, droht der Ordner.
Hackers united
Aber Regeln sind nun einmal wichtig, wenn 3000 Menschen aus 35 Ländern fünf Tage zusammen zelten, sich austauschen, lernen und feiern. Die Zeltstadt ist gut durchorganisiert und auf Internationalität ausgelegt. Das fängt beim Wegeplan an. Es gibt eine "Rue de Kepler", einen "Intergalactic Square", eine "Mission Control" und eine "Galileo Straat". Die kleinen Zeltdörfer heißen zum Beispiel "Danish Embassy" für die dänische Hackergruppe, "Twammtisch" für die Twitter-Freunde oder "Hardhackers", was wahrscheinlich ironisch gemeint ist. Überhaupt gehören Spaß und Humor zum Chaos Computer Camp dazu, wenn auch der Humor manchmal ziemlich speziell ist.
Ins Cockpit eines alten Jagdfliegers, von denen zwischen den Hangars einige Exemplare herumstehen, hat jemand eine Puppe mit einem Totenschädel gesetzt und daran einen Brautschleier befestigt. Zwischen Bäumen am zentralen Essplatz hängt ein Brautkleid, dessen Arme irgendwie verlängert wurden, woran jetzt unter anderem eine Öllampe baumelt. In der Chill-Out-Zone mit Bar läuft nicht die übliche Loungemusik, sondern die Tonspur eines alten Jane-Fonda-Fitnessvideos aus den späten 70er-Jahren: "Put your leg right down and up und down again"- ungewöhnliche Musik für ruhige Momente in einer Hängematten zwischen Kiefern. Abends sorgen hier DJs für Partystimmung inmitten eines bunt beleuchteten Waldes, Kilometer vom letzten Dorf entfernt.
Löten für Anfänger
Doch tagsüber geht es darum, Neues zu lernen und darüber zu reden. Das Angebot an Seminaren und Workshops ist riesig. Darunter sind auch Veranstaltungen, die man so nicht erwartet hätte - zum Beispiel ein Workshop zum Löten lernen. Hacker, so digital ihre Arbeitsergebnisse auch sein mögen, müssen eben auch mit ganz realen Problemen kämpfen, zum Beispiel damit, selbst einen Schalter zu reparieren.
Es riecht nach verbranntem Metall und Gummi. Englisch ist unter den Teilnehmern wie fast beim gesamten offiziellen Programm des Camps die gängige Umgangssprache. Die Frau neben mir kommt aus Bulgarien, der Mann daneben aus Holland, der andere aus den USA, der dritte aus Dortmund. Sie löten, reden und tippen nebenbei etwas in ihre Tastaturen.
Das Chaos Computer Camp ist das größte seine Art in Europa und zieht immer mehr Menschen auch von anderen Kontinenten an. Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Hackerszene gebe es kaum mehr, sagt ein US-Amerikaner, der seinen Namen nicht nennen möchte. Es gehe darum, seine Technikbegeisterung auszuleben und den Fortschritt voranzutreiben.
Von Nerds zu Politik-Beratern
Als in den 80er-Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks erste Hackergruppen gegründet wurden, gab es große Unterschiede. In Deutschland verstand man sich als linke Alternativbewegung, in den USA dagegen waren die Nerds, wie man sie später auch nannte, fest in den elitären Universitäten der Ostküste verankert.
30 Jahre später hat sich der Chaos Computer Club in Deutschland eine positive Reputation bis in höchste politische Kreise hinein erarbeitet. Vertreter sitzen zum Beispiel in der "Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft" des Bundestages oder inmitten von Spitzenpolitikern bei Polit-Talks im Fernsehen. Vereinnahmen lässt sich der Club dennoch nicht, egal von wem - wie jüngst der Streit um das "deutsche Wikileaks" zeigte. Daniel Domscheit-Berg, Wikileaks-Aussteiger und Gründer von Openleaks, gab den Startschuss für seine für Deutschland gedachte Plattform auf dem Chaos Computer Camp. Als Domscheit-Berg dann aber sein Produkt in den Medien verkaufte, als sei es mit einer Art Gütesiegel des Chaos Computer Clubs versehen, reagierte der Hacker-Verein mit einem Rausschmiss.
Sehnsucht nach dem Weltraum
Immer noch ein wenig unkonventionell lautete das Motto des diesjährigen Sommercamps: "Hackers in Space". Gemeinsam will man, so heißt es, die Probleme der Zukunft lösen und dazu gehöre nun einmal auch, den Weg in den Weltraum zu bahnen. Auf dem zentralen Platz des Camps steht deshalb eine vier Meter große Raketenattrappe.
Einer der insgesamt 15 Vorträge an diesem Samstag hat das Thema "Wie finanziere ich eine Mondmission?". Der Redner spricht ganz allgemein über Wege und Fallstricke der Finanzierung wissenschaftlicher Projekte. Der Weg ins All ist bei den Hackern von Finowfurt wohl eher als Metapher für Technik, Fortschritt und Zukunft zu verstehen.
Vernetzt denken und leben
Auf dem Weg in die Zukunft wird konzentriert gearbeitet - auch unter den ungefähr zwei Dutzend Zeltdächern, die man sonst von größeren Gartenfesten her kennt. "Kognitive Robotik" steht an einem der Zelte. Hier sitzen Studenten der Humboldt-Universität in Berlin zusammen an ihren Rechnern, links die Müsli-Packung, rechts ein Knäuel aus vielen Kabeln. Was sie dort genau machen, das ließ sich auf die Schnelle nicht herausfinden.
Dass Hacker unsoziale Mitmenschen seien, die isoliert vor ihrem Bildschirm hocken - dieses Vorurteil wird hier nicht bestätigt. Die Camp-Teilnehmer sind in großen und kleinen Gruppen unterwegs, reden, essen Pizza, trinken Kräuterlimonade mit extra viel Koffein oder sitzen zusammen auf alten Sofas und hören elektronische Musik oder alte lustige deutsche Schlager.
Es gibt sogar ein Family-Village, Frauen allerdings sieht man nur wenige. Ein paar Kinder spielen mit einem selbstgebauten Roboterhund und einer irgendwie gearteten Fluggerätschaft. Dann formiert sich spontan eine Mini-Prozession hinter einem kleinen Elektrogefährt, das man ansonsten auf Golfplätzen sehen kann. Darin sitzt eine wild kostümierte Frau mit einem aufgespannten Regenschirm, neben ihr ein junger Mann um die 30, dem geschätzten Durchschnittsalter der Camp-Teilnehmer, der die Passanten aufruft "Macht mit, schließt euch an"! Was dann 15, 20 andere auch tun - ohne allerdings zu wissen, wem oder was sie sich genau anschließen.
Letzte Order
Ich würde am liebsten noch bleiben, muss aber zurück ins 40 Kilometer entfernte Berlin und entschließe mich, zu meinem Wagen zu gehen, der weit weg zusammen mit geschätzten 800 anderen Autos auf der alten, inzwischen bewachsenen Startbahn des ehemaligen Flughafens steht.
Der schlechtgelaunte Ordner steht nicht mehr am Ausgang. Ich werde aber dennoch zur Ordnung gerufen, weil ich meinen umgehängten Presse-Tagesausweis wieder abgeben soll. Davon hätten sie nicht mehr so viele und das Interesse der Medien sei in diesem Jahr riesig.
Hacker sind derzeit offensichtlich sehr angesagt, denke ich auf der Nachhausefahrt. Vielleicht hängt das ja damit zusammen, dass die Leute in diesen von Finanzkrisen und Schulden geprägten Tagen auch mal wieder optimistisch in die Zukunft schauen wollen. So wie es die Hacker tun, die daran glauben, dass alles besser wird - und wenn nicht auf der Erde, dann vielleicht ja auf dem Mond.
Autor: Kay-Alexander Scholz
Redaktion: Thomas Latschan