Das Unterbewusstsein der Schiedsrichter
7. April 2011Er hat nach bestem Wissen gehandelt und hat sofort entschieden: Tofik Bachramow nickte an jenem 30. Juli 1966. Ein Nicken, das sich in die Geschichte des Fußballs eingebrannt hat. Der Aserbaidschaner Bachramow war Linienrichter des WM-Finales von 1966 im Londoner Wembley-Stadion. Er signalisierte Schiedsrichter Gottfried Dienst, dass der Ball beim berühmten Wembley-Tor hinter der Linie war. Das Finale ging für Deutschland verloren, Gastgeber England wurde Weltmeister. Ob die zweifelhafte Entscheidung dem Heimvorteil der Engländer geschuldet war, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Fest steht: Es gibt den Heimvorteil auch bei Schiedsrichterentscheidungen.
Mehr Nachspielzeit für Heimteams
Sportwissenschaftler und Ökonomen haben für verschiedene Studien die Daten aus mehreren Bundesligaspielzeiten analysiert und kommen zu ähnlichen Ergebnissen. "Es gibt diese Verzerrung und sie ist weit verbreitet in allen professionellen europäischen Fußballligen und auch in den USA", stellt Thomas Dohmen fest. Der Leiter des Forschungsinstituts für Arbeitsmarkt und Berufsbildung der Universität Maastricht hat für seine Studien zum Phänomen des Heimvorteils Daten aus zwölf Bundesliga-Spielzeiten ausgewertet. So geben die Referees zum Beispiel durchschnittlich 22 Sekunden Extra-Nachspielzeit, wenn die Heimmannschaft mit einem Treffer zurückliegt. "Das ist genau die Zeit, die man braucht, um noch einmal vors Tor zu kommen - es kann also entscheidend sein", sagt Dohmen. Auch von fälschlicherweise gegebenen Toren profitierten seinen Auswertungen zufolge öfter die Gastgeber. Wembley lässt grüßen.
Mehr Elfmeter für Heimteams, mehr Verwarnungen für die Gäste
In Sachen Elfmeter haben ebenfalls die Heimteams leichte Vorteile. In einer Studie, in der die Bundesligaspielzeiten von 1993/94 bis Ende 2003 untersucht wurden, haben die Schiedsrichter 857 Mal auf Elfmeter entschieden. Unabhängig vom Stadiontyp wurden von den Experten häufiger falsche oder umstrittene Entscheidungen für die Gastgeber gezählt. Nur 65 Prozent aller Strafstöße für die Heimmannschaft waren korrekt. Bei Strafstößen für die Gastmannschaften lag die Quote immerhin bei 72 Prozent. Was aber beeinflusst die Schiedsrichter zugunsten der Heimmannschaft?
Wichtigster Faktor ist der Zuschauerlärm, hat Daniel Memmert, der Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, herausgefunden. Die Unparteiischen seien bei lauter Geräuschkulisse eher geneigt, Karten zu zücken, berichtet er. "Im Unterbewusstsein wird das Geräusch als Zeichen gewertet, dass doch etwas war, was eine Gelbe Karte verdient." Je mehr Zuschauer und je näher sie am Spielfeld sitzen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Spielverzerrung. Statistisch sähen die Spieler der angereisten Teams so eine "halbe" Gelbe Karte mehr pro Spiel als die Heimmannschaft.
Bessere Ausbildung soll gegen Fehlentscheidungen immun machen
Zwischen Wembley und den Fußball-Partien im Jahr 2011 ist allerdings viel passiert. Der statistisch nachweisbare Heimvorteil habe immer weiter abgenommen, sagt Memmert. Das liegt an der besseren Ausbildung der Schiedsrichter, betont Lutz Michael Fröhlich. Der ehemalige Profi-Referee leitet heute die Schiedsrichterabteilung des Deutschen Fußball-Bunds. Die Unparteiischen sollen sich von Lärm der Zuschauer nicht ablenken lassen. Damit ihnen das künftig noch besser gelingt, feilen die Sportwissenschaftler um Memmert an speziellen Trainingsprogrammen für das Unterbewusstsein. Ob das vor 45 Jahren Schiedsrichter Gottfried Dienst und Linienrichter Tofik Bachramow geholfen hätte, ist schwer zu sagen. Sie hatten unter dem Lärm von knapp 100.000 Zuschauern im vollbesetzten Wembley-Stadion zu entscheiden und ihre Entscheidung ist bis heute Legende.
Autor: Jens Krepela/dpa
Redaktion: Joscha Weber