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Das Phänomen Angela Merkel

Kay-Alexander Scholz8. August 2013

Die Kanzlerin bleibt trotz bunter Jacken eine verhaltene Erscheinung und scheut große Gesten. Dennoch ist sie ein Polit-Star. Ihre protestantische Herkunft und der Zeitgeist halfen ihr dabei.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel vorm Reichstag (Foto: dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel vorm Reichstag 2013Bild: picture-alliance/dpa

Die gesellschaftlichen Beben nach der Jahrtausendwende - vor allem der Terrorismus und die Schulden- und Eurokrise - haben ihre Spuren im Denken und Handeln der Bürger auch in Deutschland hinterlassen. Weil die Zeiten so unruhig waren, wuchs die Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung. Gut beobachten lässt sich das unter jungen Erwachsenen, also denjenigen, die unter der Kanzlerschaft Merkels seit 2005 sozialisiert wurden. Alte Werte wie zur Zeit des sogenannten Biedermeier im 19. Jahrhundert erfahren eine Renaissance: Familie, der Wunsch nach sicheren Jobs und eigenem Haus, also der Rückzug ins Private, stehen bei Umfragen unter Heranwachsenden an vorderster Stelle. Soziologen beschreiben sie daher auch als neue Biedermeier-Generation.

Manche sagen sogar explizit, dass Merkel schuld am neuen Biedermeier sei. Nach acht Jahren im Amt habe die Kanzlerin das Gemüt der Deutschen geprägt, schrieb der "Spiegel"-Essayist Dirk Kurbjuweit im Mai 2013 unter der Überschrift "Das zweite Biedermeier". Merkel habe Deutschlands demokratischen Streit lahmgelegt, meint Kurbjuweit. Das Bürgertum wolle nur noch ein ungestörtes Leben führen. Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat schon das Wort Biedermeier verwendet, um Kritik an der Kanzlerin zu üben.

Familie Hauschild (Gemälde von E. Gärtner von 1843, Berlin, Märkisches Museum)
Privates Glück statt Politik: Familie im Biedermeier zwischen 1815 und 1848Bild: picture-alliance/akg-images

Merkels öffentliches Auftreten sei stellvertretend für eine neo-bürgerliche Abgrenzung des Privaten, sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. "Zwar wirbt sie im Wahlkampf mit ihrer Persönlichkeit, aber wirklich Privates erfahren wir von ihr nicht." Das sei eine altbürgerliche Tugend, vom Privaten wenig preisgeben oder wissen zu wollen und die Aufmerksamkeit auf die öffentlichen Aufgaben einer Person zu richten, so Korte.

Signale der Stabilität

Die neue Sehnsucht der Deutschen nach Sicherheit und Orientierung bedient Merkel auf mehreren Feldern. Sie versprach den Bürgern, Deutschland werde gestärkt aus der Krise hervorgehen. Und tatsächlich sprechen zumindest die seit Jahren guten Wirtschafts- und Arbeitslosenzahlen dafür. Im Ausland tritt sie als strikte Verteidigerin der Heimat auf. Egal, ob nach G8-Treffen oder EU-Gipfeln, sie deutet Verhandlungsergebnisse stets als Gewinn für deutsche Positionen und sie vermittelt den Eindruck, deutsches Geld sei in ihren Händen gut aufgehoben. In der angelsächsischen Welt, wohin die Deutschen gern schauen, gilt Merkel als mächtigste Frau der Welt.

Auch äußerlich sendet Merkel Signale der Stabilität. Ihre Frisur ändert sie seit Jahren nur in Nuancen. Ihre Business-Outfits unterscheiden sich allein in der Farbe der immer gleichen Art von Blazern, meist getragen über einer einfachen schwarzen Hose. Da mag die Welt draußen noch so stürmisch sein, in den TV-Nachrichten sieht Merkel aus wie gewohnt und strahlt ihre typische Unaufgeregtheit aus.

Protestantische Basis

"Irgendwie leidenschaftslos, aber ernsthaft ist Merkel immer im Dienst für die Wähler und nicht für sich selbst unterwegs, so wirkt es zumindest für die meisten", beschreibt Korte Merkels erfolgreiches Image einer Lotsin und Kümmerin in Krisenzeiten. Dabei wirke sie ausgesprochen authentisch, so Korte. Eine Erklärung hierfür sei in Merkels Herkunft zu finden. "Der Grundzug des Dienenden und der Verzicht auf Machtgebahren hängen mit Merkels protestantischem Pfarr-Elternhaus zusammen", so Korte. Denn das sei typisch für die protestantische Arbeits- und Armutsethik.

Merkel selbst sieht das übrigens genauso. Gelassenheit und Erfülltheit im Beruf sowie Zurückhaltung habe sie aus dem Elternhaus mitgenommen, sagte die 59-Jährige einmal über sich selbst.

Akteurin und Profiteurin zugleich

Der Protestantismus in Deutschland entstand als Gegenbewegung zur damaligen Doppelmoral in der katholischen Kirche. Seine Anhänger predigen Schlichtheit statt Pomp oder Show und Konzentration auf innere Werte. Repräsentieren spielt kaum Rolle, weder nach innen noch nach außen. Es ist eine Kultur der Übersichtlichkeit mit gleichzeitig gedämpfter Lebensfreude. Tugenden wie Bescheidenheit, Verzicht, Fleiß, Sparsamkeit und das Hohelied der Arbeit versprechen protestantische Erlösung. Diese Tugenden haben während Merkels Regierungszeit seit 2005 in der Politik und in der Öffentlichkeit eine Renaissance erfahren. Dabei ist Merkel Akteurin und Profiteurin zugleich.

Schon 1999, als die Bundesregierung aus dem katholischen Bonn im Westen der Republik ins protestantische Kernland nach Berlin umzog, prophezeiten einige Kommentatoren, Deutschland werde nun anders werden, nämlich ostdeutscher und protestantischer. So ist es auch gekommen. Dieser protestantische Wandel zeigt sich auch an der Staatsspitze und in Merkels Partei, der CDU. Zu Bonner Zeiten waren stets die Katholiken in der Überzahl. In der gegenwärtigen Führungsriege der Christdemokraten gibt es fünf Protestanten und nur zwei Katholiken. Unter den CDU-Ministern im Bund ist Peter Altmaier nun mehr der einzige Katholik. Der oberste Mann im Staat, der Bundespräsident, ist ein evangelischer Pfarrer und wie Merkel in der ehemaligen DDR aufgewachsen.

Die Kanzlerin und ihre Vergangenheit - Angela Merkel und die DDR

Stellvertreterin des Grundrauschens

Merkels Machtinstinkt, ihr taktisch-strategisches Geschick und ihre Anpassungsfähigkeit haben sie zu einer sehr erfolgreichen Politikerin in Deutschland und Europa gemacht. Ihre Rolle als Kanzlerin der Deutschen füllt sie aber auch deshalb so gut aus, weil sie zum gegenwärtigen Grundrauschen in Deutschland passt.

So ist Merkels Ansehen in der breiten Bevölkerung weiterhin ungebrochen, die hohen Zustimmungswerte bei Umfragen zeigen das in regelmäßigen Abständen. Doch Korte warnt: Aus dem protestantisch geprägten Zeitgeist der Gegenwart werde eine neue Sehnsucht nach Charisma und damit anderen Politiker-Persönlichkeiten erwachsen.