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Glaube

Das „Gerücht vom lieben Gott“ wachhalten

15. Oktober 2020

Die feierliche Verkündigung des Glaubens in den Kathedralen allein garantiert den Fortbestand der Gemeinschaft der Gläubigen nicht. Vor allem braucht es die Gläubigen, die über Gott im Alltag reden.

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Büro Person mit Smartphone
Bild: picture-alliance/dpa/A. Heinl

Mitte der 80er Jahre. Im großen Saal (oberstes Stockwerk) eines mondänen Kurhotels mit traumhaftem Blick auf den Ostseestrand. Sekt wird gereicht und Canapees. Der Bürgermeister ist da, der Hoteldirektor, und - der Pfarrer. Aber die wichtigsten Gäste sind „die Neuen“, die neuen Urlauber. Jeden Montagmorgen werden sie willkommen geheißen.

 

Als junger Hörfunkreporter für den populärsten Radiosender im Norden interessiert mich besonders die Rolle des Pfarrers. Wirbt der für die Einhaltung der Sonntagspflicht? Nein, sagt er. „Ich bin hier, um das Gerücht vom lieben Gott wachzuhalten“. WOW, der perfekte Teaser um später die Reportage anzumoderieren. Ich war jung, Theologiestudium bei den Jesuiten, anschließendes Volontariat, hatte die erste Stelle und war selbstkritisch gegenüber meiner Kirche, die ich zu sehr auf sich selbst bezogen empfand.

Die „Volkskirche“ bröckelte schon länger; die Gottesdienstbesuchszahlen begannen spürbar zu sinken. Kontinuierlich ging das weiter, bis heute im Jahr 2020. Aktuell sind es kaum mehr als 10 Prozent der Kirchenmitglieder beider Konfessionen, die jeden Sonntagmorgen noch mit dem Gebetbuch das Haus verlassen. Wenn 90 Prozent der Katholiken aber nicht mehr zur Kirche kommen, dann, so denke ich, müssen die Priester raus zu ihren - hoffentlich noch - Gläubigen. Genau diesen Weg schlug damals der „Hotelpfarrer“ ein. Das beeindruckte mich und die Urlauber auch.

Ein Pfarrer, der sich damit abgefunden hat, dass seine Kirche sonntags leerer wird; er geht auf die Menschen zu, er predigt nicht, er moralisiert nicht; der geht raus aus dem Kirchenraum; er ist einfach da und stößt mit ihnen auf die schönsten Wochen im Jahr an. Ich bin sicher, hier und da bekam der Smalltalk auch Tiefgang, wurde zur Seelsorge.

Heute arbeite ich für das Fernsehen – für Verkündigungssendungen der katholischen Kirche bei den großen, bundesweiten TV-Sendern, auch für die Gottesdienstübertragungen im ZDF. Als katholischer Theologe bin ich überzeugt: die Eucharistiefeier, die Erinnerung an Jesu letztes Abendmahl bildet den unumstößlichen Mittelpunkt unseres Glaubensvollzugs. Deshalb sind und bleiben Gottesdienste und darin Verkündigung notwendig. Da aber nur noch wenige Christen „zur Kirche gehen“ ist die Botschaft des Evangeliums darauf angewiesen vor allem außerhalb des sakralen Raums weitergesagt zu werden. Von den hauptamtlichen Mitarbeiter/innen der Gemeinden, klar, aber vor allem durch mehr oder weniger charismatische Menschen, die über Gott im Alltag reden, vom Leben mit Gott zeugen. Sie halten keine theologischen Vorträge, aber die Rede von Gott lebendig.

Das gilt auch für mich: Ich lasse in Fernsehsendungen „Alltagschristen“ zu Wort kommen, die als Taxifahrer/innen ihren Gästen Lebensmut zusprechen, als Altenpfleger/innen unsere Mütter und Väter auf dem letzten Lebensweg begleiten, oder als Friseur/innen soviel von ihren Kund/innen wissen, dass sie deren Biographie schreiben könnten - inklusive dem Kapitel „woran glauben die?“. 

„Irgendwie ist da einer über uns“ – so beschreiben viele Menschen, die noch Mitglied in einer Kirche sind, sich aber als „Kirchenferne“ als Nicht-Kirchgänger einstufen, dass sie doch noch „an was Höheres“ glauben. Viele von ihnen sind für Predigten nicht empfänglich, aber für das „Gerücht vom lieben Gott“. Immer, wenn „der da oben“ wieder zur Sprache kommt, wird das „Gerücht“ genährt. Zusammen mit den ersten religiösen Erfahrungen im Elternhaus, in der Schule oder der Teilnahme an Gottesdiensten zu Hochzeiten und Beerdigungen bleibt es lebendig.

Mittlerweile ist der Hotelpfarrer leider verstorben. Doch jüngere Generationen bestreiten neue Wege: Beispielsweise erreichen Internet-Pfarrer/innen heute über Facebook viel, viel mehr Menschen als die sonntäglichen Kirchgänger. Dazu kommen Blogger, Instagramer und Youtuber, die die Frage nach Gott immer wieder neu stellen. „Woran glaubst du?“ nennt eine Freundin ihren dialogischen Podcast, in dem sie Prominente nach ihrem Lebenssinn befragt. Sie arbeitet nicht für die Kirche, verkündigt nicht. Sie interviewt „nur“.

Unzählige mehr oder weniger, sogar kirchenkritische Gläubige artikulieren bei Facebook, Instagram und TikTok mit ihrer christlichen Überzeugung Positionen in der Gesellschaft zu allen aktuellen Themen, egal ob Präsidentschaftskandidaten und ihr Glaube, Klimawandel, Sexualmoral, was auch immer. Oder sie kommentieren nur, oder lesen, wie die meisten,

einfach nur mit. So halten sie alle die Rede von Gott wach – und Sie, die sie diesen Text jetzt bis zum Ende gelesen haben, Sie tun das auch.

 

 

Deutschland Frankfurt | Katholische Fernseharbeit | Ulrich Fischer
Bild: Ulrich Fischer

Ulrich Fischer leitet die Arbeitsstelle „Katholische Fernseharbeit“ der Deutschen Bischofskonferenz in Frankfurt am Main. Der studierte Diplomtheologe arbeitete u.a. für Radio Vatikan, Radio Schleswig-Holstein, Radio FFH und SAT.1, aktuell für das Kirchenprogramm im ZDF.