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„Das finde ich heuchlerisch“

Susanne Nickel12. März 2014

Amnesty International Deutschland ist Partner des Global Media Forum 2014. Im DW-Interview äußert sich Generalsekretärin Selmin Çalışkan zu Partizipation, digitale Gesellschaft und Whistleblower.

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Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty Deutschland
Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty DeutschlandBild: Amnesty International

Auf dem diesjährigen Global Media Forum geht es um Partizipation vor dem Hintergrund einer sich verändernden Informationsgesellschaft. Sicher auch für Amnesty ein wichtiges Thema, denn die Beteiligung Ihrer Mitglieder ist für Sie existenziell …

In der Praxis ist Partizipation für die Arbeit von Amnesty ein noch viel zu schwacher Begriff. Wir sind basisdemokratisch aufgebaut und es sind die Mitglieder, die für alle Richtungsentscheidungen verantwortlich sind. Auch die Positionen zu zentralen Themen werden von ihnen bestimmt. Das ist bei den Kampagnen und Aktionen auch so – da bauen wir natürlich auf die Ehrenamtlichen. Ohne sie geht es nicht.

Durch die beherrschende Rolle des Internets hat auch ihr ureigenes Thema, die Menschrechtsdebatte, eine Erweiterung erfahren. Wie haben Sie sich darauf eingestellt?

Das Thema Internet ist Fluch und Segen zugleich – zwei Seiten einer Medaille. Zum einen ist es ein sehr großes Mobilisierungsinstrument. Wir können sehr schnell unsere Mitglieder erreichen, wenn wir eine Aktion oder Kampagne starten oder über unsere Kampagnen und Strategien informieren wollen. Natürlich erhalten wir auch selbst Informationen, beispielsweise wenn eine Geschichte zu gefährlich wird, wie eine Reise nach Syrien für eine Recherche vor Ort. Da ist das Internet ein Segen. Es ist auch ein Segen, wenn es um effektive und schnelle Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen in autoritären Regimen geht. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen, die in Ländern ohne demokratische Standards arbeiten und Kritik äußern, nirgendwo hingehen können, denn sie werden sofort attackiert oder bedroht. Daher ist das Internet ein geeignetes Medium, da man im geschützten Raum bleibt – auch anonym – und trotzdem kritisch seine Meinung äußern kann.

Die NSA-Affäre hat gezeigt, dass das Netz kein geschützter Raum ist. Im Gegenteil – unsere Privatsphäre ist massiv bedroht und somit unser Recht auf freie Meinungsäußerung.

Das ist die andere Seite der Medaille. Aktuell fällt mir dazu die Türkei ein. Präsident Gül hat der Verschärfung der Internet-Kontrolle per Gesetz zugestimmt und nicht, wie wir gefordert haben, von seinem Veto-Recht Gebrauch gemacht. Übrigens hat er Twitter genutzt, um seine Entscheidung kundzutun. Der türkische Staat nutzt Online-Medien, um seine restriktive Politik zu rechtfertigen, aber schränkt die Meinungsfreiheit für andere ein. So wird das Internet zum Herrschaftsinstrument. Ich war während der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Jahr in der Türkei. Twitter ist von der Regierung als Fluch bezeichnet worden, denn wir haben ständig über den Kurznachrichtendienst mobilisiert und organisiert. So wussten wir immer, wo die Polizei steht, wo man auf keinen Fall hingehen darf, wo Tränengas und Wasser auf uns herabregnen würden. Über das Netz sind alternative Medien entstanden, weil die Mainstream-Medien Selbstzensur geübt und nicht mehr berichtet haben, was auf der Straße los war.

„DW ist Plattform für Meinungsvielfalt“

„Schutz der Whistleblower“ wird Ihr Thema auf dem Global Media Forum sein. Gerade hat es die EU abgelehnt, sich für Snowden einzusetzen. Was können Sie als internationale Organisation hier bewegen?

Zurzeit ist es ja so, dass Snowden noch keinen Asylantrag gestellt hat. Es wird im vorgeworfen, dass er in Russland sitzt, aber niemand bietet ihm etwas anderes an. Das finde ich heuchlerisch. Als Whistleblower hat er sich den Schutz vor exzessiver und unfairer Strafverfolgung verdient – und die droht ihm in den USA. Er hat ein Gewissen und er hat Rückgrat und niemand will ihn unterstützen. Er müsste nach Deutschland eingeladen werden und vor dem Untersuchungsausschuss befragt werden. Es geht doch auch darum aufzuarbeiten, welche Informationen er zu den Abhörmaßnahmen hier in Deutschland hat.

Amnesty International nimmt zum dritten Mal am Global Media Forum teil, welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen Ihrer Organisation und der DW in den Zielsetzungen?

Die Deutsche Welle ist zwar keine Menschenrechtsorganisation, aber ihr sind Menschenrechte ein Anliegen. Sie gibt der Zivilgesellschaft eine Stimme und stellt eine Plattform für Meinungsvielfalt bereit. Um ein kleines Beispiel zu erzählen: In Russland gibt es eine kleine Gruppe von Soldatenmüttern. Die haben eine Art Wahlbeobachtung gemacht, bevor Putin wiedergewählt wurde, und ihre Ergebnisse auf ihre Website gesetzt. Sie sind dann vom russischen Staat eingeschüchtert worden, indem man sie aufforderte, sich unter dem Agentengesetz registrieren zu lassen. Wenn man hört, wie restriktiv mit zivilgesellschaftlichen Gruppen umgegangen wird, bekommt die Existenz der Deutschen Welle in diesem Land eine andere Dimension: Diese Gruppen wissen dann, sie können zwar selbst nichts Kritisches veröffentlichen, aber sie wissen auch, ich kann zur Deutschen Welle gehen und über unsere Anliegen sprechen. Im Idealfall kann die DW Aktivisten vor Ort schützen und gleichzeitig helfen, dass sie nicht mundtot gemacht zu werden. Um noch einmal auf die Türkei zurückzukommen: Auch hier kann die DW nun ein wichtiges Medium für die zivilgesellschaftlichen Gruppen werden, indem sie auf Missstände in Menschenrechtsfragen aufmerksam macht und den Akteuren vor Ort eine Stimme gibt.