Das Buch
Kennen Sie das? Gerade war das Ding noch da und plötzlich ist es weg. Ein Zettel, ein Kuli, ein Kaugummi. Na, halb so schlimm! Aber was, wenn man damit noch viel mehr verliert? Wenn plötzlich alle Sicherheiten schwinden?
Ich hatte das Buch schon am Tag vorher gesucht. Im Regal, auf dem Schreibtisch und im Bett. Ja, auch im Bett. Ich habe keinen Nachttisch, also liegen bei mir einige Sachen im Bett herum, auf der Wandseite: vor allem Zeitungen und Bücher, eben das, was normalerweise auf den Nachttisch gehört. Ich hatte das Buch nicht gefunden. Außerdem fiel mir der Name des Autors nicht mehr ein. Ich wusste nur noch: Shortstorys eines jungen Berliner Autors, dringende Empfehlung eines Freundes.
Um drei Uhr nachts wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Das passiert ab und zu, nichts Ungewöhnliches. Dann lese ich eben ein bisschen, dachte ich mir. Ich hatte sogar richtig Lust zu lesen. Ich tastete nach der Wandseite und stieß sofort auf ein Buch. Na sowas, freute ich mich, da ist es ja wieder! Und ich muss nicht einmal aufstehen!
Ich setzte mich auf und knipste die Lampe an. Aber es war nicht das Buch des Berliners, es war ein Erzählband von Arthur Schnitzler, etwa genauso groß und dick.
Meine Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Der Berliner hatte es eigentlich nicht sein können, schließlich hatte ich gestern auch hier im Bett nachgesehen.
Ich fing also eine von Schnitzlers Geschichten an, „Tod eines Junggesellen“. Davon wurde ich so müde, dass ich bald wieder einschlief. Als ich das nächste Mal erwachte, war es immer noch früh für Sonntagmorgen, halb sieben etwa, und plötzlich wusste ich, wo das Buch war. Das Buch des Berliners.
Im Traum war ich in einem tiefen blauen Gewässer geschwommen, das genügte. Vorgestern war ich nämlich im Hallenbad und hatte für die U-Bahnfahrt dorthin ein Buch eingesteckt. Die Bahn war sehr voll, ich musste stehen und kam nicht zum Lesen. Also blieb das Buch in der Tasche ... und musste immer noch dort sein.
Mit – im wahrsten Sinne des Wortes – traumwandlerischer Sicherheit etwas mit traumwandlerischer Sicherheit tun redensartlich für: etwas perfekt beherrschen; etwas absolut sicher umsetzen stand ich auf, holte die Tasche und zwischen den Schwimmsachen steckte tatsächlich ein Buch. Der Umschlag mit dem blauen Eisbär. Na also, jubelte ich, der Tag fing gut an, der dicke Knoten von gestern war geplatzt!
Erleichtert schleuderte ich das Buch aufs Bett. Zurück, wo es hingehörte, auf die Wandseite zu meinen aktuellen Lektüren. Ich sehe noch, wie der Eisbär durch das Zimmer segelte, aber nicht weit genug. Er erreichte nur die Kante der Matratze, federte von dort zurück, in einem erstaunlich hohen Bogen und fiel auf den Boden.
Woran ich mich nicht mehr erinnere: ob ich das Buch sofort aufhob. Ich weiß noch, dass ich kurz ins Bad ging, um die Heizung anzustellen. Dann legte ich mich wieder ins Bett, und beschloss, noch ein wenig weiterzuschlummern schlummern hier: nicht tief und fest schlafen .
Als ich endgültig aufwachte, stand die kalte Wintersonne schon im Fenster, kurz nach neun, ein herrlicher Tag voll schöner Möglichkeiten.
Sofort erinnerte ich mich an das Buch, griff zur Seite und ... hielt wieder den Schnitzler-Band in der Hand. Ich sah auf den Boden. Nichts!
Ich setzte mich auf und zog die Decke weg, kniete mich dann hin und sah unter das Bett. Kein Eisbär, kein Berliner. Mir fiel ein, dass ich mir in der Euphorie Euphorie (f., nur Singular) ein Zustand großer Begeisterung und Freude vorhin seinen Namen wieder nicht gemerkt hatte. Einen Moment überlegte ich, ob ich das Wiederfinden nur geträumt hatte. Aber meine Tasche lag halbgeleert auf dem Boden und ... die Heizung im Bad war angeschaltet.
Ich begann zu suchen, wie verrückt. Und zwar wirklich: wie verrückt. Immer wieder schüttelte ich die Bettdecke durch, immer wieder drehte ich die Bücher und Zeitungen auf der Wandseite um, immer wieder kniete ich vor dem Bett. Nichts! Dann dehnte ich meine Suche aus. In der Früh war ich ja ins Bad gegangen, vielleicht hatte ich da auch einen Schluck Tee in der Küche getrunken. Und möglicherweise das Buch dabei achtlos irgendwohin gelegt.
Also sah ich auch in Bad und Küche nach. Neben der Heizung, am Waschbecken, auf dem Fensterbrett, im Flaschenregal. Nichts! Immer noch dachte ich, gleich würde ich es entdecken, würde: ‚Mein Gott, natürlich!‘ lächeln und der Spuk wäre vorbei.
Das Fensterbrett, das Waschbecken, das sind immer noch annehmbare Orte. Das sind diese gedankenlosen Plätze, an die man Bücher legt, wenn plötzlich das Teewasser kocht oder das Telefon klingelt. Dort gehören eigentlich keine Bücher hin, aber trotzdem sind das Orte, mit denen man sich irgendwie versöhnen kann.
Man greift sich an die Stirn, schüttelt den Kopf über so viel Zerstreutheit Zerstreutheit (f., nur Singular) die Unkonzentriertheit , und ist einfach froh, dass die Suche zu Ende ist. Aber was, wenn das Buch auch dort nicht ist? Es bleiben die anderen Orte, die unmöglichen. Die Orte, wo es eigentlich nicht sein kann. Ich begann, auch dort nachzusehen, auch wenn man das eigentlich niemandem erzählen kann. Im Briefkasten zum Beispiel, aber wie sollte es dahingekommen sein? In meinen Schreibtischschubladen und Jackentaschen, vor der Wohnungstür und, ich gebe es zu, im Kühlschrank. Ja, auch im Kühlschrank. Ich sah hinein, sicherheitshalber.
Was ich mich zu fragen begann: Was, wenn das verdammte Buch nun wirklich im Briefkasten ist? Oder in einer Jackentasche? Soll man sich immer noch freuen, oder muss man nicht eher erschrecken, über das Buch und über sich selbst? Wo endet die Freude und wo beginnt der Horror?
Irgendwann begriff ich, dass es keine gute Lösung mehr geben konnte. Eine Lösung, bei der man aufatmen kann. Wenn die Dinge an ihren Platz rücken und die Welt wieder in Ordnung ist. Plötzlich wurde mir bewusst, dass dies nicht mehr möglich war. Dazu hatte ich die Bettdecke zu oft umgedreht, die Bücherregale zu oft durchgesehen, alle Taschen zu oft ausgeleert und wieder eingeräumt.
Bei manchen Problemen genügt es ja, einfach darüber zu schlafen. Am nächsten Tag wird man klarer sehen. Aber es war noch vormittags, ich war völlig wach, der Sonntag lag lange und schrecklich vor mir.
Ich mache es kurz. Das Buch ist nicht mehr aufgetaucht. Ich habe es auch nicht mehr gekauft, ich erinnere mich ja nicht einmal an den Namen des Autors. Aber auch wenn ich ihn wüsste – ich bräuchte nur den Freund anzurufen und zu fragen –, möchte ich es nicht mehr haben. Es ist einfach weg. Natürlich geht mir die Sache manchmal im Kopf herum, und erschreckt mich immer wieder, ein tiefsitzender Stachel im Fleisch ein Stachel im Fleisch (sein) redensartlich für: eine ständige Bedrohung/ ein ständiges Ärgernis darstellen . Und doch hoffe ich, dass es besser so ist. Besser diese Unklarheit, als plötzlich zu entdecken, dass man jemand ist, der an einem Sonntagmorgen ein wiedergefundenes Buch in der Mikrowelle liegen lässt.