1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Corona: Wenn der Rettungswagen ausbleibt

30. Juni 2022

Kostenpflichtige Corona-Tests, Ende der Maskenpflicht, viele Corona-Kranke: Deutschland geht mit wenig Schutz in die nächste Corona-Welle. Rettungssanitäter warnen: Die Notfallversorgung ist nicht mehr gesichert.

https://p.dw.com/p/4DTB6
Symbolbild Rettungswagen mit Blaulicht
Muss im Notfall schnell da sein: Rettungswagen im EinsatzBild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

Während seiner Nachtschicht vor kurzem galt wieder jeder zweite Einsatz einem Corona-Fall, sagt Rettungswagenfahrer Tobias Thiele. "Es ist ein Trauerspiel." Der Feuerwehrsanitäter arbeitet in der westdeutschen Rhein-Main-Region in der Nähe von Deutschlands größtem Flughafen Frankfurt. Hier wie anderswo in Deutschland und Europa steigen die Corona-Infektionen wieder. Doch in dieser Welle ist einiges anders: Die anschwellende Infektionskurve bringt jetzt Deutschlands Rettungskräfte in Bedrängnis. Rettungssanitäter Thiele ist auch Sprecher der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft und schlägt Alarm: "Seit Monaten warnen wir vor dem Kollaps im Rettungsdienst, jetzt ist er da."

Kollaps der Notfallrettung in Deutschland? Das Land ist stolz darauf, dass hier innerhalb kürzester Zeit Rettung naht - egal ob bei Herzinfarkt, Schlaganfall, Unfall oder Feuer. Doch die jetzt anschwellende Corona-Welle ist die erste fast ohne Schutzmaßnahmen: Die Maskenpflicht ist fast überall gekippt – in deutschen Supermärkten wird wieder ohne Mund-Nasenschutz eingekauft.

Rettungskräfte im Krankenstand

Und das trifft wiederum die Rettungskräfte, sagt Tobias Thiele: Auch sie infizieren sich und melden sich krank. "Corona macht vor unseren Kolleginnen und Kollegen genau so wenig Halt. Das spüren wir jetzt", sagt der Rettungssanitäter im Gespräch mit der DW. Bei den zurückliegenden Infektionswellen hätten sich die Menschen noch gut geschützt, "da war dieser Effekt nicht so schlimm": Hohe Infektionszahlen, hohe Krankenstände bei den Notfallrettern in Deutschland – und jetzt kommt auch noch die Ferienzeit dazu. Überall in Deutschland könnten "jede Nacht Rettungswagen nicht besetzt werden, weil das Personal fehlt", sagt Rettungssanitäter Thiele. 

Zuletzt hat in der deutschen Hauptstadt Berlin die Feuerwehr gewarnt: Zwischenzeitlich gab es keinen einzigen freien Rettungswagen. "Die Zahlen sind schon jetzt dramatisch: Die Berliner Feuerwehr sagt ja, bis heute gab es in Berlin rund 170 Tage, an denen der sogenannte Notstand ausgerufen wurde, das heißt: Es war maximal noch ein Rettungswagen für ganz Berlin noch frei oder sogar gar keiner." Ein weiterer Grund: Die Fahrzeuge müssen nach jedem Corona-Einsatz komplett desinfiziert werden. Das braucht Zeit. Erst nach der Intensivreinigung können die Sanitäterinnen und Sanitäter wieder ausrücken. Und: Viele von ihnen sind nach fast zweieinhalb Jahren Pandemie am Ende ihrer Kräfte. Diese Erschöpfung beim Personal spüren die Deutschen gerade in vielen Bereichen des Lebens, weil auch dort das Personal fehlt. Etwa bei der Post: Briefe werden in Städten wie Berlin oft mit Verspätung zugestellt. Oder beim Flugverkehr, wo der Krankenstand den Personalengpass verschärft.

Coronaschutz-Regeln abgeschafft

Eine "Kaskade Corona bedingter Ereignisse", prophezeite der Pandemiemodellierer und Komplexitätsforscher Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität bereits im vergangenen Winter zu Beginn der ersten Omikron-Welle: Der Ausfall wichtiger Infrastruktur, weil das Personal krank wird – wie jetzt mit einem halben Jahr Verzögerung bei den Rettungskräften. Vergangenen Winter galten in Deutschland aber noch die strengen Corona-Regeln. So konnte das schlimmste Chaos verhindert werden. Jetzt aber "explodiert die Inzidenz", so Brockmann gegenüber der DW, die vielen Erkrankungen tauchten aber schon gar nicht mehr in der Statistik auf. "Die Dunkelziffer ist hoch", weil viele Corona-Kranke sich gar nicht mehr testen lassen und die Krankheit schlicht zu Hause durchstehen. Gemeldet werden in Deutschland aber nur die Corona-Fälle, die mit einem positiven PCR-Test im Labor entdeckt worden sind.

Covid-19 Special: Corona und die Umwelt

Zum Monatswechsel hat die Regierung auch noch die kostenlosen Corona-Schnelltests abgeschafft. Die kosten jetzt drei Euro. Das könnte noch mehr Menschen davon abhalten, sich testen zu lassen. Die Tests seien wertvoll und wichtig, sagte SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach im ZDF-Fernsehen. Allerdings seien die Kosten für die Steuerzahler für die bisher kostenlosen Tests zu hoch. Außerdem müsse der Missbrauch durch Testcenter eingegrenzt werden.

Gutachten zu Corona-Maßnahmen veröffentlicht

Deutschland bewegt sich mit nur schlechter Datenlage auch durch diese Corona-Welle. Eine Gruppe deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hat jetzt im Auftrag der Bundesregierung die Corona-Maßnahmen seit Beginn der Pandemie bewertet. Dass in Deutschland zu wenig Gesundheitsdaten erhoben werden, kritisiert auch diese "Expertenkommission zur Evaluation der Corona-Schutzmaßnahmen". Anders als in den USA oder Großbritannien, wo das Gesundheitsscreening der Bevölkerung einen eigenen Wissenschaftszweig bildet. In ihrem Bericht schreiben die Fachleute, dass vor allem ein Mund-Nasenschutz wirkungsvoll sei, wenn die Masken "richtig getragen werden". Bei Veranstaltungen wie Konzerten oder Theater sei die Zugangsbeschränkung nur für Geimpfte wenig sinnvoll, hier sei die Pflicht zu einem aktuellen negativen Corona-Test wirkungsvoller. Die in Deutschland umstrittenen Lockdown-Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre bewerten die Forscher als nur zu Beginn einer Pandemie "sinnvoll". Die Expertenkommission und ihr Gutachten werden in Deutschland stark kritisiert – wie könne sinnvoll bewertet werden, welche Maßnahmen tatsächlich zur Eindämmung einer Pandemie wirkten, wenn doch in Deutschland zu wenige Daten vorlägen, so der Vorwurf. 

Sachverständige ziehen Bilanz zu Corona-Schutzmaßnahmen
Corona-Bilanz vorgestellt: Der Sachverständigenausschuss zur Evaluation des InfektionsschutzgesetzesBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Auch die aktuelle Corona-Sommerwelle hat die Politik überrascht. In den vergangenen zwei Pandemiejahren hatten sich die Deutschen in den Sommermonaten an ein entspannteres Leben in der Pandemie gewöhnt, weil jeweils die Inzidenzen stark gesunken waren. Viele Experten hatten den Anstieg der Infektionszahlen jetzt erst für den Herbst erwartet, wenn sich in der kalten Jahreszeit wieder mehr Menschen in Innenräumen aufhalten. Für ihn sei klar, sagt Physikprofessor Brockmann, dass schon jetzt "viel Virus im Raum herumschwebt". Die Infektionszahlen steigen also weiter und mittlerweile auch wieder die Corona-Einweisungen in die Krankenhäuser. 

Städte drängen auf Infektionsschutzgesetz

Viel Virus, aber wenig Gegenwehr: Selbst wenn sie wollten, könnten viele Städte in Deutschland im Herbst die Schutzmaßnahmen wie zum Beispiel die Maskenpflicht gar nicht verschärfen, um ihre Rettungskräfte zu schützen. Es fehlt an einem neuen Infektionsschutzgesetz. Der Deutsche Städtetag vertritt die Kommunen in Berlin und fordert die Bundesregierung auf, das neue Infektionsschutzgesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Die liberale Regierungspartei FDP hatte darauf gepocht, dass erst nach Vorlage des Gutachtens des Expertenrates und der Bewertung der bisherigen Corona-Politik über neue Maßnahmen für den Herbst entschieden wird.

Viel Zeit bleibt nicht: Kommende Woche trifft sich das deutsche Parlament zum letzten Mal, dann geht es in die Sommerpause. Ob in Deutschland in diesem Sommerurlaub bei einem Unfall zuverlässig der Rettungswagen mit Blaulicht anrückt, ist ungewiss.

Dieser Artikel wurde am 01.07.2022 aktualisiert.