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Chinas Angst vor dem Absturz

Thomas Kohlmann
12. Juli 2023

Westliche Länder kämpfen gegen die Inflation, China befürchtet eine Deflation. Die Erzeugerpreise sind auf einem Rekordtief, die Verbraucherpreise stagnieren. Besonders brisant ist der Einbruch in einem Schlüsselbereich.

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China: Dutzende Baukräne auf einer Mega-Baustelle in Xiong'an in der Provinz Hebei im August 2022
Mega-Baustelle in Xiong'an in der Provinz Hebei im August 2022Bild: Liu Quanle/VCG/MAXPPP/dpa/picture alliance

Wenn die Konjunktur nicht noch weiter an Fahrt verliert, dann könnte Chinas Wirtschaft in diesem Jahr um mehr als fünf Prozent zulegen. Was in westlichen Industrieländern ein solides Plus wäre, ist für die chinesische Staats- und Parteiführung ein Rückschlag. Denn die früheren Schätzungen internationaler Großbanken, die noch vor kurzem von einem Wirtschaftsplus von über sechs Prozent ausgingen, sind damit vom Tisch. Längst deuten Chinas Konjunkturdaten an: dem erhofften starken Aufschwung geht nach dem Ende der Null-COVID-Politik die Puste aus.

Der private Konsum schwächelt, die Exporte kommen nicht richtig in Fahrt, die Landeswährung Yuan ist unter Druck. China macht zu schaffen, dass wichtige Absatzmärkte wie Deutschland und andere EU-Länder in einer Rezession stecken.

Besonders brisant ist die Lage auf dem Immobilienmarkt, der in China einen extrem hohen Anteil von mehr als 25 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beisteuert. Noch immer kämpfen Immobilienentwickler ums Überleben, bei Wohnungs- und Hauskäufern geht die Angst vor einem Totalverlust um. Die Folge: Chinesische Unternehmen und Verbraucher halten derzeit ihr Geld lieber zusammen, statt neue Kredite aufzunehmen.

Für die Finanzexperten des Finanzhauses Barclays steckt das Land in einem "schwierigen Deflationsumfeld". Als Deflation wird ein Preisverfall auf breiter Front bezeichnet, der eine Abwärtsspirale aus sinkenden Umsätzen, Löhnen und Investitionen auslösen kann - mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft.

Historisches Horror-Beispiel

Das Szenario erinnert an die Situation Japans im Jahr 1990, als nach einem langen Wirtschafts- und Immobilienboom das Land in eine Dauerkrise stürzte.

Der Spekulationsblase bei Immobilien war damals exorbitant: Allein die Fläche um den Kaiserpalast in Tokio von knapp zwei Quadratkilometern hatte 1989, auf der Höhe der Immobilienblase, eine Bewertung der Immobilien ganz Kanadas. Und der Wert von Japans Immobilien war viermal so hoch wie der Wert aller Grundstücke in den USA, einem Land, das fast 25 Mal größer ist als Japan. Grundstücke in Tokios Einkaufsviertel Ginza wechselten Ende der 1980er Jahre für Preise von bis zu 250.000 Dollar pro Quadratmeter den Besitzer.

Japan: Leuchtreklamen in Tokios Einkaufsmeile Ginza bei Nacht
Ende der 1980er Jahre Quadratmeterpreise von bis zu 250.000 Dollar: Tokios Einkaufsmeile Ginza Bild: Taidgh Barron/Zuma/picture alliance

Um die heiß gelaufene Konjunktur abzukühlen, griff ab Dezember 1989 die Notenbank ein. Das Ergebnis war ein regelrechter Zinsschock. Nach fünf Zinserhöhungen von 2,5 auf 6,0 Prozent platzte 1990 die Immobilien- und Vermögensblase. Der Nikkei-Index der japanischen Börse verlor fast die Hälfte seines Wertes - und das innerhalb von neun Monaten.

Die Immobilienpreise gerieten unter Druck, die steigenden Zinsen trieben die Kreditkosten in die Höhe und fraßen immer mehr die Mieteinnahmen auf. Banken reduzierten ihre Kreditvergabe, Immobilienkäufer bekamen Liquiditätsprobleme, Häuser wurden verkauft und Sparen war angesagt.

"In Japan fiel damals der Wert für Gewerbeimmobilien landesweit um 87 Prozent", bringt der Ökonom Richard Koo das Ausmaß der Krise auf den Punkt. "Nicht in irgendeiner kleinen Ecke in Tokio, sondern im ganzen Land." Die Herausforderungen für Japans Unternehmen seien massiv gewesen, erinnert sich Koo im Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg. "Sie mussten über viele Jahre hinweg ihre Schulden loswerden und ihre Bilanzen wieder ins Gleichgewicht bringen." Für Investitionen blieb da nur wenig Spielraum.

Wird China zum neuen Japan?

Kaum ein anderer Ökonom weltweit hat sich so intensiv mit den Gründen für Japans Wirtschaftskrise nach 1990 und dem darauf folgenden "verlorenem Jahrzehnt" so intensiv beschäftigt wie Richard Koo. Der Chefvolkswirt des Nomura Research Institute mit taiwanesischen Wurzeln und US-Pass kreierte nach seinen Analysen den Begriff der Balance Sheet Recession. Diese Bilanzrezession machte Koo für die damalige japanische Dauerkrise verantwortlich. In seinem 2003 veröffentlichtem Buch "Balance Sheet Recession: Japan's Struggle with Uncharted Economies and Its Global Implications" beschrieb Koo, wie eine Rezession nicht durch Konjunkturzyklen entsteht, sondern durch Wertpapier- und Immobilienblasen.

Koo, der an den US-Eliteunis Berkeley und Johns Hopkins studierte, war Anfang der 1980er Jahre für den regionalen Ableger der US-Notenbank Federal Reserve in New York tätig. Dort wurde sein Buch "The Holy Grail of Macroeconomics: Lessons from Japans Great Recession" zwischen den leitenden Fed-Mitarbeitern und anderen US-Ökonomen herumgereicht. Es machte auf den späteren Fed-Chef Ben Bernanke offenbar so großen Eindruck, dass Koos Ansatz bei der Bewältigung der Finanzkrise nach 2008 in die Politik der US-Notenbank einfloss.

Der Taiwanesisch-amerikanische Ökonom Richard C. Koo bei einem Wirtschaftsforum in Italien (Aufnahme aus dem Jahr 2015)
Richard Koo prägte 2003 den Begriff der Bilanzrezession mit seiner Analyse der japanischen WirtschafskriseBild: Luca Bruno/ASSOCIATED PRESS/picture alliance

Szenario aktuell wie seit langem nicht

Auch heute werden Richard Koos Ideen wieder lebhaft diskutiert - diesmal in China. Immer öfter debattieren chinesische Medien und Ökonomen darüber, ob das Reich der Mitte ebenfalls auf eine Bilanzrezession zusteuert. Ein Anzeichen dafür: In Chinas einflussreichem Finanzmagazin Caixin ging es in der Titelgeschichte Anfang Juni um Richard Koos Analyse einer Bilanzrezession und die Parallelen zur Wirtschaft der Volksrepublik.

Und Liu Lei, ein Forscher an der National Institution for Finance and Development in Peking forderte Mitte Juni, dass die Regierung die Wirtschaft stimulieren sollte, um einer möglichen Bilanzrezession zu entgehen.

Er bekomme seit einiger Zeit häufig Anrufe aus China, berichtet Koo. Und er werde um seine Meinung zur Situation in China gefragt, erzählte Koo vor wenigen Tagen im Podcast Odd Lots von Bloomberg. "Ein chinesischer Professor sagte mir, dass etwa die Hälfte der Doktorarbeiten, die heute in China im Bereich Wirtschaft geschrieben werden, auf meiner Arbeit über Bilanzrezession beruhen", so Koo. Selbst wenn der Professor sich diese Zahl nur ausgedacht habe, deutet das für Koo darauf hin, "dass die chinesische Regierung inzwischen weiß, dass es diese Krankheit namens Bilanzrezession gibt, und dass sie wissen sollte, wie sie damit umzugehen hat."

Kreditnehmer dringend gesucht

Nach Einschätzung von Koo steht China aktuell vor einem ähnlichen Problem wie Japan nach dem Platzen der Immobilienblase. Chinesische Unternehmen und Verbraucher fahren ihre Kreditaufnahme zurück, um ihre Schulden zu tilgen, und das dämpft das Wirtschaftswachstum. Schulden abzubauen sei "auf individueller Ebene richtig", sagt Koo. Aber wenn alle gleichzeitig sparen, sei das ein großes volkswirtschaftliches Problem, erklärt der Ökonom. "Denn wenn in einer Volkswirtschaft jemand spart oder Schulden abbaut, muss jemand anderes Geld leihen und ausgeben, um die Wirtschaft in Gang zu halten."

Verzweifelte Immobilienkäufer vor der Zentrale des kriselnden Immobilienkonzerns Evergrande in Shenzhen im September 2021
Verzweifelte Immobilienkäufer vor der Zentrale des kriselnden Immobilienkonzerns Evergrande in Shenzhen im September 2021 Bild: Noel Celis/AFP

Die Ökonomen des Londoner Finanzforschungsinstituts Capital Economics gehen davon aus, dass China wirtschafts- und finanzpolitisch eingreifen wird: "Angesichts der schwachen Kreditnachfrage und der unter Druck stehenden Währung wird der Großteil der Unterstützung unserer Meinung nach durch die Finanzpolitik erfolgen". Sie rechnen in diesem Jahr mit weiteren Zinssenkungen durch die Zentralbank. Auch Analyst Hu Yuexiao vom Brokerhaus Shanghai Securities geht davon aus, dass die Währungshüter die Kreditzinsen verbilligen werden, um die Nachfrage anzuschieben.

Niedrige Zinsen allein reichen nicht

Aber bloße Zinssenkungen reichen nicht aus - davon ist Richard Koo überzeugt. Die Entscheidungsträger in Peking müssten alles tun, um die Fehler Japans zu vermeiden. "Damals senkte die Zentralbank die Zinsen auf fast Null, nichts geschah. Es gab Strukturreformen, nichts geschah. Es gab Steueranreize, die zwar halfen. Aber immer, wenn sie Wirkung zeigten, wurden die Steueranreize wieder zurückgefahren, weil man dachte: Jetzt ist wieder alles in Ordnung", beschreibt Koo das damalige Krisenmanagement.

"Die Leute fingen dann wieder an, zu sparen und es ging mit der Wirtschaft wieder bergab. Die Politik wusste damals einfach nicht damit umzugehen und versuchte auf viele - nicht sehr konsistente - Art und Weise die Situation in den Griff zu bekommen." All das habe zu Japans verlorenem Jahrzehnt geführt.

In China sei das anders: "Hier wissen die Ökonomen und wirtschaftspolitischen Akteure, dass wir es mit einer Bilanzrezession zu tun haben", betont Koo.

Wenig staatliche Unterstützung in der Pandemie

Die Probleme im Reich der Mitte seien allerdings auch teilweise hausgemacht, meint der Nomura-Chefvolkswirt. "Die chinesische Regierung hat Unternehmen und Bürger, die unter den Lockdowns litten, nicht so großzügig unterstützt wie die Regierungen in den USA oder der EU. Als Ergebnis habe ich den Eindruck, dass viele chinesische Haushalte sowie kleine und mittgroße Unternehmen tatsächlich ihre Ersparnisse angreifen mussten, um die Folgen der Lockdowns zu überstehen."

Und wenn diese chinesischen Firmen dann das Gefühl bekämen, dass sie nicht genug Ersparnisse haben, um künftige Schlechtwetterperioden zu überstehen, versuchten sie, noch mehr zu sparen. Um genug Rücklagen zu haben, um die nächste Krise zu überstehen. "Am Ende haben wir dann eine Bilanzrezession." Und wenn alle zur selben Zeit für die Bildung neuer Finanzreserven sparen, dann schwäche das die chinesische Volkswirtschaft erheblich.

Richard Koo räumt ein, dass es sehr schwer sei, betreffende Daten von der chinesischen Seite zu bekommen, "aber ich glaube, das Problem könnte in China größer sein als in den USA oder Europa."

China Krise am Immobilienmarkt | Unfertige Neubauten
Richard Koo: China muss dafür sorgen, dass unfertige Neubauten, wie hier in der Provinz Henan, zu Ende gebaut werdenBild: DW

Intervention im Immobiliensektor

Konkret empfiehlt Koo China, Geld zu investieren, um die vielen stagnierenden Immobilienprojekte im Land fertigzustellen. "Ich würde der chinesischen Regierung empfehlen, die Bauunternehmen zu unterstützen, damit versprochene Bauvorhaben tatsächlich fertiggestellt werden", sagt Koo. "Ich denke, das ist die effektivste Art, Steuergelder auszugeben." So könnten die Menschen beruhigt werden, die extrem verunsichert sind, ob sie etwas von all ihren Investitionen jemals zurück bekommen werden. "Immerhin haben sie bereits für das Wohnhaus bezahlt oder eine Anzahlung geleistet", so Koo.

Diesen Teil der Empfehlung Koos scheinen die Entscheidungsträger in Peking bereits beherzigt zu haben: Man will dem angeschlagenen Immobilienmarkt des Landes stärker unter die Arme greifen, erklärten die chinesische Finanzaufsicht und die Zentralbank gemeinsam am 10. Juli.

Konkret geht es dabei unter anderem um die Stundung von Immobilienkrediten und einen Aufschub bei der Rückzahlung von Immobilienkrediten um ein Jahr.

Die neue Linie wäre eine Kehrtwende der Politik Xi Jinpings: Der Staats- und Parteichef hatte seit 2020 mit einer ganzen Reihe von drastischen Maßnahmen auf dem überhitzten Immobilienmarkt durchgegriffen.