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Chemiewaffen in Terroristenhand?

Fabian Schmidt18. Oktober 2014

Eine Horrorvorstellung: die Terrormiliz IS im Besitz von Chemiewaffen. Restbestände könnten ihr im Irak in die Hände gefallen sein. Für eine systematische Kriegsführung würden sie jedoch kaum taugen.

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US-Soldaten ziehen sich Schutzkleidung an (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/dpa

Nach Recherchen der "New York Times", die die Zeitung kürzlich veröffentlichte, könnten sich unter anderem auf dem zerstörten Gelände einer ehemaligen Chemiewaffen-Produktionsanlage in Al Muthanna nahe Bagdad noch Restbestände von Sarin und Senfgas befinden. Es handele sich um zwei Bunker, in denen möglicherweise Granaten und Raketensprengköpfe lagern.

Brisant daran: Einige Gebiete, in denen Giftstoffe lagern oder vermutet werden, wie in Al Muthanna, werden mittlerweile von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) kontrolliert. Chemiewaffenexperten gehen allerdings davon aus, dass es den IS-Kämpfern schwer fallen dürfte, die Munitionsabfälle, die fast ausschließlich aus dem ersten Golfkrieg in den 1980er Jahren stammen, heute noch systematisch militärisch zu nutzen.

Sarin ist kurzlebig

Der Toxikologe Ralf Trapp erläutert im Gespräch mit der Deutschen Welle, grundsätzlich müsse man zwischen zwei Arten von Giftgas unterscheiden: Senfgas und Sarin. "Die Iraker haben immer Schwierigkeiten gehabt, Sarin lagerstabil zu machen", sagt der Chemiker, der von 1998 bis 2006 im Wissenschaftlichen Beirat der UN-Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) tätig war. "Wir wissen, dass sich der Inhalt der Waffen, die sie befüllt haben, nach relativ kurzer Zeit durch Hitzeeinwirkung anfängt zu zersetzen. Dabei geht der Kampfstoff kaputt."

Was davon übrig bleibt, ist zwar immer noch hochgiftig und kann auch schwere Verletzungen verursachen, wenn man damit in Kontakt kommt. Aber für chemische Kriegsführung eignen sich so alte Sarin-Granaten nicht mehr. Senfgas-Granaten sind da schon gefährlicher. "Der Schwefel-Lost in diesen alten Waffen ist vermutlich heute noch sehr aktiv", sagt Trapp. "Wir wissen aus dem ersten Weltkrieg, dass diese Chemikalie sehr stabil ist. Und selbst wenn sie anfängt, sich zu zersetzen, sind die Zersetzungsprodukte noch hochgiftig."

Kommen die Terroristen also an Senfgas-Granaten heran, könnten sie diese theoretisch noch nutzen. Aber sie gingen dabei ein erhebliches Risiko ein, denn auch Senfgas durchläuft bestimmte Zersetzungsprozesse. Dabei entsteht in der Granate hoher Druck. So kann das Gift aus der Granate austreten und denjenigen verletzen, der damit hantiert.

Senfgas ist schwierig zu handhaben

Nähmen die Terroristen dieses Risiko in Kauf, könnten sie zum Beispiel eine schmutzige Bombe bauen - also die chemische Waffe mit einem konventionellen Sprengsatz zur Explosion bringen. "Solche improvisierten Waffen werden in ihrer Wirksamkeit vermutlich nicht mit denen vergleichbar sein, die man im militärischen Bereich findet", schätzt der Toxikologe. "Aber sie sind trotzdem ernstzunehmen, besonders, wenn man es auf der anderen Seite mit ungeschützten und schlecht ausgerüsteten Personen zu tun hat."

"Der Irak hat Teile seiner Chemiewaffen nicht nach den international üblichen Konventionen gekennzeichnet. Möglicherweise sind einige dieser Waffen auch so alt, dass Kennzeichnungen durch Rost und Beschädigungen verloren gegangen sind", gibt Oliver Meier aus der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin zu bedenken. Er kann sich deshalb vorstellen, dass die Terroristen Chemiewaffen einsetzen, ohne überhaupt zu wissen, womit sie es zu tun haben. "Ich bin nicht sicher, ob IS-Terroristen, wenn sie denn eine Chemiewaffengranate in der Hand haben, erkennen würden, dass es sich um eine solche handelt", sagt er.

Golfkrieg Munitionsbunker 73 Sprengung 1991 (Foto: AP)
Während des ersten Golfkrieges bombardierte die US-Luftwaffe MunitionsbunkerBild: AP/Department of Defense

Granaten sind kaum zu identifizieren

"Einige Senfgas-Granaten befinden sich unerkannt in etlichen konventionellen Geschossen. Die könnten dann mit der Artillerie verschossen werden", skizziert auch der belgische Sicherheitsforscher Jean-Pascal Zanders ein mögliches Szenario. "Dann hätten wir es nicht mit einem absichtlichen, sondern mit einem irrtümlichen Giftgaseinsatz zu tun."

Auch diese Waffen sind zwar gefährlich - weil sie aber nicht systematisch zum Einsatz kämen, wäre die Giftwirkung lokal begrenzt, sagt Zanders. "Senfgas ist nicht so sehr tödlich. Es verursacht komplizierte Verletzungen, aber um daran zu sterben, müsste man einer großen Menge ausgesetzt sein."

Ein weiteres Szenario: Die Terroristen verbauen eine Giftgas-Granate in einer Sprengfalle. In mindestens einem Fall hat die "New York Times" das im Irak dokumentiert. Aber auch hier bleiben Fragen offen: "So ist nicht klar, ob den Terroristen wirklich bewusst war, dass sie in ihren Sprengfallen Dinge einsetzen, die nicht nur eine explosive, sondern auch eine toxische Wirkung haben", sagt SWP-Sicherheitsexperte Oliver Meier. In dem konkreten Fall wurden zwar die amerkanischen Soldaten verletzt, die den Sprengsatz entschärft und abtransportiert hatten, aber zumindest kam bei dem Anschlag niemand ums Leben.

IS ist auch ohne Chemiewaffen eine Bedrohung

Das Fazit der Chemiewaffenexperten ist also einhellig: Senfgas-Granaten in den Händen der Terroristen könnten einzelne Opfer schwer verletzen oder sogar töten, aber als Massenvernichtungswaffen taugen sie nicht mehr. "Was wir im Irak haben, ist für Individuen gefährlich, aber nicht die eigentliche militärische Bedrohung", sagt Konfliktforscher Jean Pascal Zanders.

Die IS-Dschaihadisten seien also nicht deshalb gefährlich, weil sie möglicherweise Zugang zu Chemiewaffenabfällen haben. "Die wirkliche Gefahr geht von der Rücksichtslosigkeit aus, mit der sie ihr Besatzungsregime errichtet. Sie werden vermutlich versuchen, konventionelle Waffen zu erobern." Und auch mit diesen kann die Terrorgruppe Angst und Schrecken verbreiten.