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Schoßgebete

21. August 2011

Bereits ihr erster Roman hatte 2008 höchsten Alarm ausgelöst. Nun ist das zweite Buch da. Und wieder öffnet sich die Sex- und Tabu-Schublade. Doch nicht so weit, wie man anfangs vermutete.

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Charlotte Roche in der Talkshow 'Markus Lanz' (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Als Moderatorin beim Fernsehen hat Charlotte Roche mit ihrem Wortwitz, ihrer Schlagfertigkeit und dem Second-Hand-Klamotten-Charme dem Fernsehen ein unverwechselbares Gesicht geschenkt. Nach der TV-Karriere schrieb sie dann ihr erstes Buch, "Feuchtgebiete". Es ging um Körperflüssigkeiten und Autoerotik. Kritiker und Feuilletons überschlugen sich: Ist es Trash, ist es Literatur, ist es mutig, braucht man das? Zwei Millionen Leser haben es gekauft.

Sex geht immer

Nun ist das zweite Buch da: "Schoßgebete". Der Verlag sprach im Vorfeld von "einem unserer letzten Tabus – dem ehelichen Sex." Ok. Für jeden, dem in "Feuchtgebiete" trotz sabbernder Vorankündigungen und Beschreibungen zu wenig Sex im Spiel war, dem zeigt Charlotte Roche auf den ersten 20 Seiten von "Schoßgebete" tatsächlich erstmal, wo der Hammer hängt. Doch dann beginnt die Protagonistin Elizabeth dem Leser nach und nach den Rest ihres Wesens zu offenbaren.

Ein Unfall, der alles wegreißt

Ein Stapel 'Schoßgebete' in einer Buchhandlung. Der Roman startet mit einer Erstauflage von 500.000 - die höchste Erstauflage, die ein deutschsprachiger Autor bisher erreicht hat. (Foto: Nadine Wojcik/DW)
Bild: DW

Elizabeth ist ein richtiges Szene-Kind, in ihrer Umgebung herrschen immer ein bisschen Chaos, Unruhe und Bewegung – sie nennt es Hippie-Dasein. Ihre bunte Familie macht sich eines Tages mit Kind und Kegel nach London auf, um dort Elizabeths Hochzeit zu feiern. Auf der Fahrt sterben ihre drei jüngeren Brüder bei einem Verkehrsunfall. Mit einem Schlag ist das flippige fröhliche Leben zu Ende.

Seitdem lebt Elizabeth in verzweifelter Angst, noch einmal die Kontrolle über ihr Schicksal zu verlieren. Sie setzt sich strengste Regeln für Sauberkeit und Ordnung. Ihren Mann liebt sie abgöttisch und ihr Kind behütet sie wie einen kostbaren Schatz. Sie zerreibt sich zwischen Verlustangst und dem Wunsch ohne ihre kleine Familie zu sein, damit sie sich nicht mehr um sie sorgen muss. Das alles bespricht sie seit Jahren mit einer Therapeutin, die mühsam versucht, das Chaos in Elizabeths Innerem zu ordnen.

Kraftvoll bis ins Mark

Die Unfallgeschichte ist wahr. Man hat Charlotte Roche vorgeworfen, den Tod ihrer Brüder für den Roman ausgeschlachtet zu haben. Solche Behauptungen sind mit Vorsicht zu genießen. Zu allen Zeiten haben Künstler, Musiker, Schriftsteller ihre Erlebnisse zu Themen ihrer Werke gemacht. Dann nennt man so was auch "Verarbeitung".

Der Unfall ist das alles bestimmende Ereignis in ihrem Leben, sagt Elizabeth an einer Stelle. Um nichts anderes geht es in dem Buch. Auf eindringlichste Weise beschreibt Roche ihre aus den Fugen geratene Gefühlswelt. Hier bekommen ihre Worte die Kraft, die dann doch endlich ins Mark trifft, zwischen endlosen Beschreibungen eines familiären Fadenwurmproblems, des Biowahns, der Gebrauchsanleitung für männliche Geschlechtsorgane, Sexszenen im Bordell und ermüdenden Gesprächen mit der Therapeutin.

Die Kunst liegt im Weglassen

Die Autorin Charlotte Roche hält auf der Leipziger Buchmesse ihren provokanten Roman "'Feuchtgebiete' (DuMont Buchverlag) hoch (Foto: dpa)
Bestseller "Feuchtgebiete"Bild: dpa

Dieses Buch ist weder Trash noch polarisierender Sprengstoff, noch birgt es sonst eine Sensation in sich. Charlotte Roche vermischt ihr eigenes Leben mit Romanfiktion, aber sie verwässert ihre furchtbare Familiengeschichte mit überflüssigem pornografischen Beiwerk. Für das nächste Buch wünsche ich Charlotte Roche, sie möge die Körperlichkeiten mal ganz weglassen und sich mit der ihr eigenen Eloquenz dem Kern der Geschichte widmen.

Mein Tipp: Lesen Sie das Buch nicht, wenn Sie über Sex und Tabubrüche lesen wollen. Dann greifen Sie besser zu Charles Bukowski, Anais Nin, Henry Miller, Michel Houellebecq.

Lesen Sie das Buch, wenn Sie Charlotte Roche mehr zutrauen als die Gesellschaft mit dem Verzehr von Körperflüssigkeiten zu schockieren. Lesen Sie es, wenn Sie mehr von ihr kennenlernen möchten, lassen Sie sie an sich ran. Dann breitet sie ihre Seele vor Ihnen aus.

Autorin: Silke Wünsch
Redaktion: Gabriela Schaaf