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Politik

Chaos in Kirgisistan

Emily Sherwin
8. Oktober 2020

Die politische Lage in Kirgisistan bleibt nach den Ausschreitungen unübersichtlich. Mehrere Oppositionsgruppen greifen nach der Macht. Die Hintergründe.

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Proteste in Kirgisistan
Bild: Vladimir Voronin/AP Photo/picture-alliance

Im zentralasiatischen Kirgisistan überschlagen sich seit der Parlamentswahl am Sonntag die Ereignisse. Die Ergebnisse der Abstimmung wurden für ungültig erklärt und Demonstranten fordern neue Gesichter in der Politik. 

Warum protestieren die Menschen in Kirgisistan?

Seit mehreren Tagen gehen die Menschen in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek auf die Straße. Die Demonstranten protestierten gegen Unregelmäßigkeiten, stürmten das Parlamentsgebäude, und befreiten zudem mehrere Politiker, wie auch den früheren Präsidenten Almasbek Atambajew, der wegen Korruptionsvorwürfen inhaftiert war. 

In der Wahl kamen nur vier der angetretenen 16 Parteien ins Parlament. Und die besäßen allesamt enge Verbindungen zum Präsidenten oder zu mafiösen Eliten im Land, bemängeln Kritiker. Nach gewaltsamen Ausschreitungen mit hunderten Verletzten erklärte die Wahlkommission die Ergebnisse der Abstimmung für ungültig. 

Demonstranten hatten zwischenzeitlich den Plenarsaal des kirgisischen Parlaments gestürmt
Demonstranten hatten zwischenzeitlich den Plenarsaal des kirgisischen Parlaments gestürmtBild: Grafecristo/Twitter/REUTERS

Doch nun fordern tausende Menschen auf der Straße Neuwahlen und eine neue, "saubere" Generation von Politikern. "Die Alten müssen weg", skandieren die Demonstranten laut Medienberichten. "Viele junge, progressive Menschen, die an den Protesten teilnehmen, wollen nicht mehr, dass wieder die alten Politiker, Beamten und auch die kriminellen Gruppen bei der Machtaufteilung im Land mitentscheiden", sagt Elmira Nogoibajewa, eine kirgisische Politologin. 

Dscheenbekow angeblich zum Rücktritt bereit 

Der amtierende Präsident Sooronbai Dscheenbekow selbst reklamiert für sich, das Land noch unter Kontrolle zu haben. Doch seit einigen Tagen ist unklar, wo er sich befindet. Und seit Mittwoch läuft gegen ihn ein Amtsenthebungsverfahren, das von einem Teil des Parlaments eingeleitet wurde. Dscheenbekow hat sich mehrmals zum Dialog bereit erklärt. In der Nacht zum Freitag teilte das Präsidentenamt mit, Dscheenbekow sei zum Rücktritt bereit, wenn die neue Regierung stehe. 

Wer hat jetzt die Kontrolle übers Land?

Doch auch wenn Dscheenbekow rechtlich noch im Amt ist: Der Machtkampf im Land findet an ihm vorbei statt. Verschiedene Oppositionsgruppen streiten sich um die Macht und versuchen, Übergangsregierungen zu bilden. Eine Gruppe hat einen Koordinationsrat gegründet, und mehrere Politiker haben sich selbst zum Premierminister ernannt, nachdem der amtierende Premier Kubatbek Boronow zurückgetreten ist. 

Vorsorglich untergetaucht: der bisherige kirgisische Präsident Sooronbaj Dscheenbekow
Vorsorglich untergetaucht: der bisherige kirgisische Präsident Sooronbaj DscheenbekowBild: Reuters/V. Pirogov

"Die Situation ist ziemlich chaotisch. Es gibt nicht mehr ein Machtzentrum, stattdessen sind viele verschiedene Gruppen an diesem Prozess beteiligt", erklärt  Elmira Nogoibajawa. Darunter seien sowohl "progressive" als auch "dubiose" und kriminelle Gruppen, so die Politologin. Der kirgisische Politikwissenschaftler Mars Sariew ordnet diese Gruppen in zwei Lager ein. "Es gibt einen Kampf zwischen der westlich orientierten Jugend, die eine vollständige Entmachtung der alten politischen Kräfte fordert" und den "alten Politikern, Gegnern von Präsident Dscheenbekow, die jetzt versuchen, friedlich an die Macht zu kommen", sagt er. 

Genau das sieht man auch an den beiden Männern, die sich jetzt unabhängig voneinander zum Premierminister erklärt haben: Der frühere Parlamentarier Sadyr Japarow wurde in den vergangenen Tagen aus dem Gefängnis freigelassen. Er wird von einigen Oppositionsgruppen gestützt, von vielen Menschen auf der Straße aber als Teil der alten Elite gesehen. Sie stehen eher hinter Tilek Togtogasiew, einem jungen und beliebten Geschäftsmann, der sich selbst zum Premier ernannt hat. Er ist ein neues Gesicht in der kirgisischen Politik. 

Warum kam es jetzt zu diesem Aufruhr?

Dies ist bereits der dritte Umsturz in Kirgisistan innerhalb der letzten 15 Jahre. Das post-sowjetische Land ist ohnehin arm und wirtschaftlich und gesellschaftlich von der Corona-Krise arg gebeutelt. Kirgisistan besitzt eine der weltweit höchsten COVID-19-Sterberaten. Unabhängigen Medienberichten zufolge hat das Land wegen der Corona-Pandemie ein Fünftel seines Jahreshaushalts eingebüßt. 

Kirgisistan wurde von der Corona-Pandemie besonders schwer getroffen
Kirgisistan wurde von der Corona-Pandemie besonders schwer getroffenBild: Guliza Urustambek Kizi /AA/picture-alliance

Die Coronakrise habe gezeigt, dass die Regierung und der Präsident "absolut handlungsunfähig" seien, so Politologin Elmira Nogoibajewa. "Andererseits hat das Virus die Menschen zusammengebracht wie nie zuvor." Im Land habe sich in den vergangenen Monaten eine starke Freiwilligenbewegung entwickelt, viele vor allem junge Menschen haben sich organisiert und ihren Mitbürgern in der Krise geholfen. Das hat nun neue, junge Politiker und auch Parteien hervorgebracht - Politiker wie den nun selbsternannten Premierminister Tilek Togtogasiew.

Wie geht es für Kirgisistan weiter?

Die Ereignisse entwickeln sich rasend schnell. Experten sagen, in den nächsten Tagen werde vermutlich eine Übergangsregierung gebildet. Es könnte in den nächsten Wochen zu Neuwahlen kommen. Das fordern die Demonstranten und auch die Opposition. Unter einigen Politikern war auch von einer Verfassungsreform die Rede.

Infografik Karte Bischkek Kirgisistan DE
Bild: DW

Mars Sariew zufolge ist es wahrscheinlicher, dass kein Vertreter der "neuen Generation" an die Macht kommt, sondern eher jemand von der "alten Garde." Denn die habe bessere Verbindungen, unter anderem auch zum Präsidenten und zu seinen Unterstützern. Elmira Nogoibajawa hingegen meint, die Stimmen, die eine komplett neue Politik im Land wollen und Politiker ohne Verbindungen zu korrupten Gruppen fordern, seinen mittlerweile "ziemlich laut" geworden. "Die Menschen sind des Stillstands überdrüssig", sagt sie.