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Fehlende Anerkennung: Frauen in der Wissenschaft

Christine Lehnen
8. März 2022

In einem neuen Buch zeigen die Historikerinnen Leila McNeill und Anna Reser, warum es bis heute nur wenige Forscherinnen in die Geschichtsbücher schaffen.

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Das Buchcover von "Frauen, die die Wissenschaft veränderten", zeigt die Bilder von vier Frauen verschiedener Hautfarben und Epochen
Das Sachbuch zeigt die Gesamtheit forschender Frauen der jeweiligen Epoche - und nicht nur wenige AusnahmenBild: Haupt

Jedes Kind kennt den Namen Marie-Curie - aber wie steht es um andere Naturwissenschaftlerinnen? Frauen sind schon seit Anbeginn der Geschichtsschreibung als Forscherinnen tätig - doch Historikerinnen und Historiker haben bisher an den falschen Orten nach ihnen gesucht. So lautet zumindest die These des neuen Buches der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerinnen Anna Reser und Leila McNeill mit dem Titel "Frauen, die die Wissenschaft veränderten".

In ihrer sorgfältig recherchierten Studie belegen die beiden Autorinnen mit großer Genauigkeit, warum es bis heute immer noch nur verhältnismäßig wenige forschende Frauen in die Geschichtsbücher geschafft haben. Auf jeden Fall liege es nicht daran, dass Frauen nicht schon immer geforscht hätten: "Vieles von dem, was Frauen gemacht haben, wurde einfach nicht als Wissenschaft betrachtet", erklärt McNeill im Videointerview mit der DW.

Eine altägyptische Chefärztin

Deshalb entwickelten sie und ihre Kollegin Anna Reser gemeinsam eine neue Herangehensweise der Wissenschaftsgeschichtsschreibung - zunächst für das von ihnen gegründete Online-Magazin "Lady Science", dann für das nun vorliegenden Buch: Leila McNeill und Anna Reser betrachteten eine historische Epoche und fragten sich nicht: Wo sind hier die Universitäten, die Wissenschaftler, die Ärzte, die Ingenieure, die Akademiker? Stattdessen stellten sie sich die Frage: Wo sind die Frauen, und wo forschen, bauen, rechnen, heilen sie?

In der Vergangenheit wurden Frauen nämlich häufig von Forschungsinstitutionen ausgeschlossen: Sie durften keine Universitäten besuchen, nicht Kirchenrecht studieren, keine Ärztinnen werden. Deshalb haben sich die Historikerinnen außerhalb der Institutionen der Macht umgesehen - und sind überall auf forschende, rechnende, bauende und heilende Frauen gestoßen. Das gelingt ihnen in ihrem Buch über alle historischen Epochen westlicher Geschichtsschreibung hinweg: vom Alten Ägypten über die Renaissance und das 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein.

Manche von diesen Frauen sind namentlich bekannt, so die altägyptische Peseschet, die auf mehreren Inschriften als leitende Ärztin, möglicherweise sogar Chefärztin bezeichnet wird, vielleicht für Frauenheilkunde.

McNeill und Reser geht es nicht darum, lediglich weitere "berühmte Gesichter" zu einer Ahnengalerie forschender Frauen hinzuzufügen - Gemälde, die man neben das Bild von Marie-Curie oder Ada Lovelace hängen könnte. Ihr Buch geht viel weiter: Sie zeigen für jede der von ihnen ausgewählte Epoche, wie und wo dort eine große Anzahl Frauen als Mathematikerinnen, Ärztinnen, Geburtshelferinnen, Baumeisterinnen und Forscherinnen tätig waren.

Nicht nur die Ausnahmen zeigen

In "Frauen, die die Wissenschaft veränderten" geht es nicht darum, einzelne Frauen als Ausnahmeerscheinung zu feiern, sondern darum aufzuzeigen, inwiefern eine große Gruppe von Wissenschaftlerinnen zur Naturwissenschaft beigetragen hat. Nur das eben in Bereichen, die uns nicht an heutige Forschung erinnern oder die damals nicht als Naturwissenschaft betrachtet wurden - etwa die Geburtshilfe.

Der Schlüssel zu einer gleichberechtigten Art der Geschichtsschreibung sei es, Lücken im historischen Material interpretieren zu lernen, so die beiden Autorinnen. Das schlug auch die britische Historikerin Suzannah Lipscomb kürzlich vor: in dem von ihr herausgegebenen Buch "What Is History, Now?". Neue Methoden der Geschichtsschreibung seien nötig, um die Geschichte von Menschen zu erzählen, die nicht weiß und männlich seien - ja, um sie überhaupt erst zu finden, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Gleichberechtigte Geschichtsschreibung

McNeill und Reser geben dafür unzählige Beispiele. Oft seien Forscherinnen von ihren zeitgenössischen männlichen Kollegen zwar erwähnt worden, ihre Schriften seien aber nicht erhalten -  weil man sie nicht für erhaltungswürdig hielt. "Wer die Geschichte der Frauen schreiben will, steht also vor der Herausforderung, diese Lücken in den Aufzeichnungen nach Hinweisen zu durchforsten, wie Frauen überhaupt aus der Wissenschaftsgeschichte getilgt werden konnten", schreiben sie in ihrem Buch.

Dass es auch politisch und gesellschaftlich entscheidend ist, Geschichte aus allen Perspektiven zu erzählen, darauf weist Rafia Zakaria im Video-Interview mit der DW hin. Die pakistanisch-amerikanische Anwältin und Autorin von "Against White Feminism" analysiert, dass Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine auch dadurch vorbereitet hätte, dass er seit zwanzig Jahren daran arbeite, in Russland eine weiße, männliche Monokultur herzustellen, die jede Form von Andersartigkeit als "un-russisch" brandmarke. "Wir erleben gerade, wie dieselbe Rhetorik gegen die Ukraine verwendet wird, wenn er davon spricht, dass dort Nazis an der Macht seien." Dabei sei die Ukraine einfach eine pluralistische Gesellschaft.

Finanzierungslücken schließen

Um die pluralistische Vergangenheit zu verstehen, brauche es eine neue Art der Geschichtsforschung, die es Historikerinnen und Historikern ermöglicht, Lücken zu interpretieren. Aber in der Gegenwart, so Anna Reser und Leila McNeill im Videogespräch mit der DW, müsse man vor allen Dingen Lücken schließen - und zwar Finanzierungslücken, gerade in den liberalen Demokratien. "Sieben Jahre lang habe ich versucht, über Frauen in der Wissenschaftsgeschichte zu schreiben", berichtet Leila McNeill. "Es war unfassbar schwierig, Medienhäuser zu finden, die dafür auch Geld bezahlen oder gar eine Stelle schaffen würden." Sie sei bei unzähligen Vorstellungsgesprächen gewesen, aber ihr wurde immer wieder gesagt, ihr Thema sei zu "nischig".

"Verleger und Redakteure geben sich mit Lippenbekenntnissen zu Vielfalt und Gleichberechtigung zufrieden, sie verstehen es nicht als etwas, in das es sich lohnt, Geld und Ressourcen zu investieren. Google macht eine süße kleine Animation, wenn eine berühmte Frau wie Marie-Curie Geburtstag hat, dann gibt es zu ihr 50 oberflächliche Artikel", führt sie aus. "Aber das reicht nicht."

Initiativen, die sich auf die Fahne geschrieben hätten, mehr Frauen in die Forschung zu bringen, hätten dasselbe Problem, so McNeill. "Alle wollen angeblich, dass mehr Frauen in die Naturwissenschaften gehen. Aber werden ihnen auch die finanziellen Ressourcen und die sicheren Räume gegeben, um dort zu bleiben?"

"Frauen, die die Wissenschaft veränderten" ist am 14. Februar 2022 auf Deutsch im Haupt-Verlag erschienen. Die englische Originalausgabe liegt unter dem Titel "Forces of Nature: The Women Who Changed Science" vor.