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PolitikEuropa

Jetzt hilft wohl nur noch ein Wunder

Barbara Wesel
10. Dezember 2020

Das Abendessen mit Jakobsmuscheln und Steinbutt brachte keinen Durchbruch. Der britische Premier Boris Johnson und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen trennten sich ohne Einigung. Droht am Wochenende der No-Deal?

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Belgien EU Brexit l EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der Britische Premierminister Johnson
Da waren sie noch auf dem Weg zum Abendessen: Boris Johnson und Ursula von der LeyenBild: Olivier Hoslet/AP/picture alliance

Normalerweise heißt "offene Diskussion" im Diplomaten-Sprech, dass gestritten wurde. So jedenfalls beschrieb die britische Seite die Atmosphäre beim Abendessen nach dem über dreistündigen Treffen. Die EU nannte die Diskussion zwischen der Kommissionschefin Ursula von der Leyen und dem britischen Premier Boris Johnson "lebendig und interessant", was vermutlich aufs Gleiche hinausläuft. Beide Seiten stellen große Differenzen bei den Positionen fest, die man nicht überbrücken konnte. Jetzt soll noch eine Runde lang weiter verhandelt und dann soll "eine Entscheidung" getroffen werden. Kommt also Sonntagabend der No-Deal?

Rückschlag für von der Leyen

Für Ursula von der Leyen ist das ergebnislose Abendessen mit Boris Johnson ein Rückschlag. Sie hat sich intensiv für einen Handelsvertrag mit Großbritannien eingesetzt, muss aber jetzt wohl einsehen, dass sie die EU-Mitgliedsländer nicht zu weiteren Zugeständnissen bewegen kann, die ihn für den britischen Premier akzeptabel machen würden. Nach wie vor wird in London gerätselt, ob er überhaupt einen Vertrag will oder er seine roten Linien nur deshalb in Beton gegossen hat, um einen Deal mit der EU zu verhindern.

Vor dem Treffen hatte der britische Premier einmal mehr seinen Lieblingsspruch auf Twitter verbreitet, den er zuvor auch im Unterhaus zum Besten gegeben hatte: "Ein guter Deal kann noch abgeschlossen werden. Aber ob unsere Handelsbeziehungen nun denen von Australien oder Kanada ähneln, Großbritannien wird gewaltig prosperieren". An letzterem zweifeln quasi alle britischen Ökonomen, ein Handelsabkommen nach dem Vorbild von Kanada bietet die EU den Briten nicht an und Australien hat gar kein Abkommen mit der EU. Mit dieser Formel verschleiert Johnson den No-Deal.

Worüber kann jetzt noch verhandelt werden?

Die Chefunterhändler beider Seiten nahmen an dem Abendessen teil, wissen also nach der Begegnung, wo sie jeweils politisch stehen. Worüber aber sie jetzt noch reden sollten, nachdem die Chefs den Knoten nicht durchschlagen konnten, welche Lösungsvorschläge es gibt, die nicht schon ein Dutzend Mal verworfen wurden, ist unklar. Vielleicht ist diese letzte Runde auch nur eine Übung zur Gesichtswahrung der beteiligten Regierungen. 

Allein die Menüwahl an diesem Abend hatte einen gewissen Sinn für Ironie gezeigt: Boris Johnson wurden Jakobsmuscheln als Vorspeise und Steinbutt als Hauptgericht serviert. Beides Arten, die eine große Rolle im Streit um die Fischerei spielen, denn sie werden in jenen küstennahen Gewässern gefangen, über die Großbritannien ab nächstem Jahr um jeden Preis wieder die Kontrolle übernehmen will. Das heißt, französische und andere EU-Fischer sollen daraus vertrieben werden, was kleine Schiffe und Familienbetriebe treffen würde. Vor allem Paris will da nicht mitmachen.

Neben der Fischerei sind weiter die bekannten Streitpunkte auf dem Tisch, die den Kern der Brexit-Ideologie berühren. Die EU will Großbritannien zu einem fairen Wettbewerb und dazu verpflichten, gewisse Regeln und Standards weiter anzuerkennen. Und sie will robuste Gegenmaßnahmen, wenn die Briten davon abweichen. Boris Johnson dagegen erklärte vor seiner Visite in Brüssel einmal mehr im Unterhaus "kein souveräner Staat der Welt könne so etwas akzeptieren".

Die EU aber verbindet eine Einschränkung der Souveränität mit dem Zugang zum Binnenmarkt, was im Widerspruch zum Ziel der Brexiteers von der totalen nationalen Unabhängigkeit steht. Das Problem ist logisch nicht zu lösen und wenn keine Seite den Graben politisch überspringt, dann bleibt nur noch der No-Deal mit allen wirtschaftlichen und politischen Folgen, die den Warenverkehr sowie die gegenseitigen Beziehungen ab Januar ins Chaos stürzen würden. Außerdem fällt ohne Abkommen auch die Polizei- und Sicherheitszusammenarbeit weg, über die man sich bereits geeinigt hatte.

Vorbereitungen für den No-Deal

Die Stimmung in Brüssel in punkto Brexit ist seit Tagen äußerst gedämpft. Michel Barnier sprach in internen Treffen von einer "ganz geringen Chance", dass man ein Abkommen erreichen könne. EU-Diplomaten sprachen von Weihnachten als Zeit der Wunder - vielleicht solle man für die Brexit-Verhandlungen ja eine Kerze anzünden. Sie betonten auch, die EU habe sich in den letzten Monaten bei den Verhandlungen substanziell bewegt, "wir haben aber keine Bewegung auf der britischen Seite gesehen".

UK Michel Barnier
EU-Chefunterhändler Michel Barnier Anfang Dezember in LondonBild: Justin Tallis/Getty Images/AFP

Angesichts dieser fast hoffnungslosen Lage dürfte die EU-Kommission beim Gipfeltreffen an diesem Donnerstag von den Mitgliedsländern dringend aufgefordert werden, die Notfallpläne für den No-Deal aus der Schublade zu holen. Über hundert Einzelregelungen sollen dafür sorgen, dass unmittelbar nach dem Ende der Übergangszeit am 1. Januar Flugzeuge weiter fliegen, Lastwagen rollen und andere lebensnotwendige Dienste aufrechterhalten werden. Viele Länder hatten schon seit Wochen gedrängt, nicht weiter damit zu warten.

Irland setzt Notfall-Planung in Gang

Vor allem Irland, das von einem No-Deal auf EU-Seite besonders schwer betroffen wäre, will jetzt die Notfall-Planung in Gang setzen und Regierungschef Micheál Martin plädiert weiter für ein Handelsabkommen: "Ich glaube, ein No-Deal wäre sehr schädlich für alle Beteiligten, für Irland und die Wirtschaft anderer Mitgliedsländer. Es ist also sehr, sehr wichtig, dass hier die Vernunft regiert und wir einen Deal bekommen".

Aber er könnte enttäuscht werden, wie auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich stets für ein Abkommen mit Großbritannien stark gemacht hatte. Allerdings betont auch sie seit einigen Wochen, es dürfe keinen Deal "um jeden Preis" sein. Sie wusste schließlich im Detail, wie schlecht die Verhandlungen zwischen beiden Seiten tatsächlich gelaufen sind. Jetzt könnte sie das Ende ihrer schwierigen Ratspräsidentschaft damit verbringen müssen, die Folgen einer solchen Bruchlandung abzumildern.