1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

EU prüft Ungarns Beschlüsse

6. Januar 2012

Nicht nur wegen des drohenden Staatbankrotts beobachtet die EU mit Sorge die Situation in Ungarn. Das Land ist wegen seiner Verfassung in der Kritik. Dabei steht auch die Glaubwürdigkeit Brüssels auf dem Spiel.

https://p.dw.com/p/13ewm
"Es reicht!" - Demonstrationen gegen Ungarns letzte Beschlüsse (Foto: Reuters)
Demonstration gegen Ungarns letzte BeschlüsseBild: REUTERS

In der ungarischen Hauptstadt Budapest gingen in dieser Woche Zehntausende gegen die neue Verfassung auf die Straße. Der Protest der Ungarn richtet sich gegen die neue Verfassung, die seit Anfang des Jahres im Land gilt. Unterstützt werden sie nun auch von der EU-Kommission. Die prüft derzeit, ob die ungarische Regierung unter der rechtsgerichteten Führung von Ministerpräsident Viktor Orban gegen EU-Recht verstoßen hat.

Seit Neujahr sind Gesetze in Kraft, die Kritikern zufolge die Unabhängigkeit von Richtern und die Pressefreiheit gefährden und den Datenschutz einschränken. So wird von Journalisten verlangt, ihre Informationsquellen offen zu legen und Zitate vor der Veröffentlichung autorisieren zu lassen. Erst kürzlich wurden zwei regierungskritische Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entlassen, nachdem sie aus Protest gegen diese Einflussnahme der Regierung in den Hungerstreik getreten waren.

20 Mal die rote Linie übertreten

Mahnende Worte statt Scherze: José Manuel Barroso und Viktor Orban (Foto: DPA)
Mahnende Worte statt Scherze: José Manuel Barroso (l.) und Viktor OrbanBild: picture-alliance/dpa

Gleichzeitig soll der Nationale Justizrat, der für die Ernennung von Richtern zuständig ist, so umgestaltet werden, dass der Präsident des Gremiums weitreichende Entscheidungsbefugnisse hat. Das bisherige Gremium hat nur noch beratende Funktion. Die EU-Kommission beanstandet hier die Machtkonzentration beim Präsidenten, man fürchtet um die Unabhängigkeit der Gerichte.

In Brüssel werden etwa 20 grundlegende Veränderungen der ungarischen Verfassung als Übertretung der roten Linie bezeichnet, überhaupt wird die Kritik immer lauter: Der französische Außenminister Alain Juppé sieht in dem neuen Grundgesetz ein Problem, und deshalb müsse die EU-Kommission prüfen, ob die Verfassung mit den rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien der EU auch vereinbar sei. Sanktionen gegen Ungarn fordert bereits jetzt der Vorsitzende der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt. Nach Ansicht des früheren belgischen Premierministers sollte die EU entschlossen auf die Verfassungsänderungen in Ungarn reagieren. Ähnliche Forderungen kommen auch aus den Reihen der Fraktion der europäischen Sozialdemokraten.

Gefährdete Unabhängigkeit der Zentralbank

Vor allem aber ist die EU wegen der Einschränkungen der Ungarischen Zentralbank in Sorge. Ungarns Premier Orban hat im Parlament mit seiner Partei "Fidesz" beschlossen, dass die Notenbank mit der Finanzaufsicht zu einer Behörde zusammengelegt wird. Wichtige Vertreter dieser Institution werden von der Regierung nominiert.

Die EU-Kommission könnte schon in den nächsten Tagen über Maßnahmen gegen Ungarn entscheiden. Auf jeden Fall wird die Situation in Ungarn Thema beim ersten Zusammentreffen der Kommission unter der neuen dänischen EU-Ratspräsidentschaft in Kopenhagen am Mittwoch (11.01.2012) sein. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wies schon im vergangenen Monat in zwei Schreiben an Orban auf eine mögliche Verletzung des EU-Rechts hin. Außerdem rief er Ungarn vor einigen Tagen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit auf und bat darum, jede Eskalation zu vermeiden.

Begrenzte Einflussnahme der EU

Bereits Anfang 2011 gab es im EU-Parlament Proteste gegen Ungarn - damals wegen seiner Medienpolitik (Foto: AP)
Bereits Anfang 2011 gab es im EU-Parlament Proteste gegen UngarnBild: AP

Die Möglichkeiten der EU, auf Ungarn einzuwirken, sind allerdings begrenzt. Stellt die EU-Kommission einen Verstoß gegen EU-Recht fest, kann sie nach Artikel 258 des EU-Vertrags beim Europäischen Gerichtshof ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Außerdem gibt es noch Artikel 7 des EU-Vertrags, der seit seiner Einführung im Jahr 2000 noch nie angewandt wurde. Er ermöglicht den Staats- und Regierungschefs der EU mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit, eine "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der Grundwerte der Union festzustellen.

Käme es zu einer anhaltenden Verletzung der Grundwerte, könnten am Ende Sanktionen ausgesprochen werden. Ungarn könnten bestimmte Rechte entzogen werden, beispielsweise das Stimmrecht im EU-Rat. Ob die Grundwerte eingehalten werden, sei allerdings nur schwierig zu bewerten, gab ein EU-Kommissionssprecher bereits zu: "Wir können nicht binnen 24 Stunden sagen, ob ein Mitgliedsstaat eine Demokratie oder Diktatur ist – wir müssen das genau analysieren." Zu den Grundwerten der EU gehören Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte und Achtung der Menschenwürde.

Nun stehen sowohl Ungarn als auch die Europäische Union unter Druck. Ungarn, das unter großen wirtschaftlichen Problemen leidet, riskiert mit der umstrittenen Verfassungsänderung, die demokratische Ordnung der EU zu verlassen. Erste Stimmen werden laut, Ungarn riskiere mit seinen radikalen Maßnahmen gar einen Ausschluss aus der EU. Die Bedrohung der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Richter im Land sei aber auch eine Ohrfeige für Brüssel. Die Europäische Union steht unter Druck, weil sie es sich nicht erlauben kann, unachtsam und unvorsichtig gegenüber einem Mitglied zu werden. Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel.

Autor: Alen Legovic, Brüssel
Redaktion: Klaus Jansen