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Boxen: Kunst oder "Killersport"?

Alima Hotakie
9. September 2021

Wer Boxen liebt, hält es für eine verkannte Kunstform. Doch der medizinische Blick in die Köpfe von Boxerinnen und Boxern zeigt die Wahrheit: Schwere Hirnschäden - manchmal mit tödlichem Ausgang - sind fast unumgänglich

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Deutschland Boxen Thomas Ulrich
Bild: Imago Images

Am 28. August 2021 wurde Jeanette Zacarias Zapata in einem Boxring im kanadischen Montreal ausgeknockt. Während des Kampfes hatte die junge Mexikanerin eine Reihe von Schlägen gegen den Kopf einstecken müssen, beim letzten Haken verlor sie sogar ihren Mundschutz. Nur fünf Tage später starb Zapata im Krankenhaus. Sie wurde 18 Jahre alt. 

Wie konnte es so dazu kommen? Was passiert, wenn der Kopf so hart getroffen wird? "Man verliert das Bewusstsein. Schlimmstenfalls fängt das Gehirn an zu bluten", beschreibt der weltbekannte Neurologe Steven Laureys die Vorgänge gegenüber DW. "Unser Gehirn ist empfindlich und braucht sehr viel Energie. Es gibt vier große Arterien und viele sehr kleine Gefäße. Wenn diese Blutgefäße im Schädel reißen, wird das Gehirn zusammengedrückt und man kann sterben."

Die unsichtbare Gefahr 

Das Boxen zielt genau auf diesen besonders sensiblen Teil des Körpers ab - mit teilweise schlimmen Konsequenzen: "Zehn, zwanzig Jahre später sieht man ein geschrumpftes Gehirn, ein krankes, dementes Gehirn aufgrund der wiederholten Schläge", erklärt Laureys. "Das sind die Langzeitschäden, die wir als Boxer-Demenz oder chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) bezeichnen." 

Einfacher ausgedrückt: eine Gehirnkrankheit. Es gibt keine Heilung und die Schäden sind so weitreichend, dass sie sogar die Persönlichkeit eines Menschen verändern können, da Teile des Gehirns betroffen sind, die für Gedächtnis und Emotionen zuständig sind. "Die Gehirnzellen interagieren, und zwar über diese Brücken. Wenn man einen Schlag erleidet, werden diese Verbindungen buchstäblich unterbrochen. Wenn man sie durchrüttelt, bricht man sie", beschreibt Laureys die Entstehung dieser irreparablen Schäden.

Das Tückische am Boxen ist, dass die Verletzungen nicht sofort sichtbar sind. Die Gesellschaft würde niemals von einem Tennisspieler mit einem gebrochenen Arm oder von einem Fußballer mit einem gebrochenen Bein erwarten, dass er weiterspielt. Aber im Boxen wird erwartet, dass auch mit den unsichtbaren Folgen von Hirnverletzungen weitergekämpft wird.

Belgien Medizin Steven Laureys
Neurologe Steven Laureys (Archivbild)Bild: ULg Houet

"Es gibt viele Boxer, junge Boxer, die CTE haben, ohne es zu wissen, weil man es nicht sehen kann", sagt Laureys. "Man braucht spezielle Gehirnscans, um zu sehen, was im Inneren vor sich geht. Die Auswirkungen sind für die Boxer selbst erst zehn, zwanzig, dreißig Jahre später sichtbar."

Die Kunst des Boxens 

Trotz dieser mitunter brutalen Auswirkungen bleibt das Boxen für seine Anhänger eine Kunst. "Viele denken, dass Boxer in den Ring steigen und sich gegenseitig verprügeln, um sich zu verletzen", sagt Michael Timm, Cheftrainer an einem der deutschen Olympiastützpunkte, der DW. "Nein, es geht darum, Ideen zu entwickeln. Wie kann ich im Ring schneller sein, um Schlägen auszuweichen? Schlagen und nicht getroffen werden, den Gegner müde machen, damit er keinen Schlag landet - das ist die Kunst des Boxens. Fechten mit Fäusten." 

Viele Boxerinnen und Boxer behaupten, der beste Schutz sei die Fähigkeit, Schlägen auszuweichen. Im Gespräch mit der DW sagte der ehemalige deutsche Amateurboxmeister Kevin Boakye-Schumann, "sicherzustellen", dass er "nicht oft getroffen" werde, sei sein Hauptziel im Ring. "Beim Boxen geht es darum, zu schlagen ohne getroffen zu werden. Es gibt eine Menge Boxer, die das perfekt umgesetzt haben und mit 50, 60, 70 oder 80 Jahren ein ganz normales Leben führen."

Bevor er als Teenager mit dem Boxen begann hatte auch er ein "falsches Bild" des Sports, gibt Boakye-Schumann zu. Heute glaubt er, dass der Sport missverstanden wird. "Boxen ist mehr als nur zwei Männer oder Frauen, die sich gegenseitig schlagen", sagt er. "Es hat viel mit Intelligenz, Ernährung, individuellen Stärken und Disziplin zu tun. Damit kann man es im Leben sehr weit bringen."  

Boxen als Heilmittel?

Für die zweifache deutsche Amateurmeisterin Sarah Scheurich führte das Boxen zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Denn sie glaubt nicht, dass sie ohne es ihren Abschluss gemacht hätte. "Ich hatte als Kind ADHS", erzählt Scheurich der DW. "Der Boxsport hat mir Erfolg und Selbstvertrauen gebracht. Aber es ermöglichte mir auch, meine Energie freizusetzen, so dass ich einigermaßen 'normal' sein konnte." 

Boxen hat vielen geholfen, aber nicht jeder muss gerettet werden. Nina Meinke ist eine deutsche Profiboxerin und Europameisterin im Federgewicht. "Als ich zwölf Jahre alt war wollte ich mit dem Boxen anfangen. Nach der ersten Trainingseinheit war ich so kaputt. Ich weiß noch, wie ich nach Hause kam und nicht mal mehr das Glas heben konnte und trotzdem dachte: 'Ich liebe es'. Seitdem wollte ich nichts anderes mehr machen", sagt die 28-Jährige der DW bei einer ihrer Trainingseinheiten in Berlin.

Einzelfälle versus Wissenschaft

Wie die Geschichten von Boxerinnen und Boxern können auch ihre Erfahrungen im späteren Leben variieren. "Ich hatte 150 Kämpfe und habe nicht einmal eine Verletzung an der Augenbraue, weil ich gut gedeckt war", sagt Michael Timm. "Habe ich ein Sprachproblem? Nein, ich glaube nicht. Auch der Lebensstil spielt eine Rolle." Neurologe Steven Laureys räumt ein, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen, ist aber kein Anhänger von Timms Denkweise. "Anekdotische Beweise bedeuten, dass es immer Menschen geben wird, die die Krankheit nicht entwickeln. Aber wir können die starke Korrelation zwischen den Schlägen auf das Gehirn und dieser Erkrankung nicht ignorieren."

Boxfans argumentieren, dass andere Sportarten eine höhere Unfallrate aufweisen. Aber der Unterschied beim Boxen besteht darin, dass es nicht darum geht, eine Linie zu überqueren oder einen Ball in ein Netz zu befördern, sondern den Kopf eines Menschen mit Schlägen zu treffen. "Im alten Rom töteten sich die Gladiatoren gegenseitig. Das machen wir nicht. Es ist illegal. Ich denke, künftige Generationen werden das Boxen, wie es heute existiert, genauso sehen", sagt Laureys. "Wie ist es möglich, dass wir als Gesellschaft diese Schläge gegen die Köpfe junger Sportler dulden und erlauben, dass sie krank werden?"

Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Tobias Oelmaier