Tödliche Medizin
20. Januar 2011Der Arzneimittelskandal erschüttert Frankreich und offenbart, dass die Politik die Gefahren des Medikaments trotz Warnungen ignoriert hat. Schon 1998 hatten renommierte Medizinprofessoren die französische Aufsichtsbehörde vor dem Appetitzügler "Mediator" gewarnt, aber erst Ende 2009 wurde das Mittel verboten.
Jetzt will Gesundheitsminister Xavier Bertrand vieles besser machen. "Im Zweifel soll für die Patienten entschieden werden, nicht für die Pharmaindustrie", so der Minister aus dem Kabinett von Präsident Nicolas Sarkozy.
Medizin wurde missbraucht
Servier, Frankreichs zweitgrößter Pharmakonzern, brachte Mediator 1976 auf den Markt. Zugelassen wurde das Mittel aufgrund seiner angeblichen Vorteile für übergewichtige Diabetiker. Schnell wurde es aber auch wegen seiner appetithemmenden Wirkung Gesunden zum Abnehmen verschrieben. Ärzte warnten schon sehr früh vor den Nebenwirkungen, Studien wiesen die Gefährlichkeit von Mediator nach.
Nach einem aktuellen Bericht der französischen Aufsichts- und Gesundheitsbehörde IGAS hätte das Mittel deshalb schon 1999 vom Markt genommen werden müssen. Doch umging der Produzent Servier das europaweite Verbot von Amphetaminen als Appetitzügler. Durch "manipulierte Studien" und eine "gezielte Zurückhaltung" von Informationen habe es Servier geschafft, seinen Appetitzügler als Diabetesmedikament zu präsentieren, die Risiken zu verschweigen und damit weiter verkaufen zu dürfen, so der IGAS-Bericht.
Andere reagieren, Frankreich zögert
Bis 2005 verboten Länder wie Spanien, Italien und die Schweiz Mediator. In Deutschland war es nicht im Handel, in den USA zog das französische Pharmaunternehmen den Appetitzügler selbst zurück. In Frankreich, Portugal und Zypern blieb das Medikament allerdings noch bis Ende 2009 auf dem Markt.
Erst als aufgrund der Beschwerden von Ärzten die Universitätsklinik Brest eine unabhängige Studie anstellte und nachwies, dass Mediator das Risiko von Herzklappenschäden verdreifacht und bei Patienten mit entsprechenden Veranlagungen tödlich wirken kann, kam es in Frankreich zum Verbot. Bis heute geht der Konzern mit juristischen Mitteln dagegen vor.
Regierung zieht Konsequenz aus Skandal
Nach diesem Skandal will die Regierung das Gesundheitssystem radikal reformieren. Gesundheitsminister Xavier Bertrand kündigte am Wochenende (16.1.2011) an, künftig Arzneimittel erst nach wesentlich strengeren Prüfungen zuzulassen. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde IGAS einen Bericht vorgelegt, der den verschiedenen Kontrollinstanzen Frankreichs systematische Fehler nachweist.
Zukünftig sollen Medikamente nicht nur wirkungsvoller sein als ein Placebo, sondern auch als bereits auf dem Markt zugelassene Produkte. Außerdem soll bei möglichen Risiken die Pharmaindustrie beweisen, dass ihre Arznei nicht schädlich ist. Bisher mussten umgekehrt die Zulassungsbehörden das Risiko eines Medikaments belegen, was äußerst langwierig und kostspielig ist.
Darüber hinaus will Bertrand nur noch diejenigen Medikamente von der Krankenkasse bezahlen lassen, die ihre Studien "frühzeitig und ausreichend" liefern. Der Konzern Servier hat mehr als neun Jahre benötigt, um eine von den Behörden angeforderte Studie über Mediator abzuliefern.
Pharmalobby und verfilzte Politik
Die französischen Medien rücken inzwischen auch die möglichen Versäumnisse des französischen Gesundheitsministeriums in den Blickpunkt der Berichterstattung. Sie bezeichnen es als "Vasallen der Pharmaindustrie". So habe die Staatssekretärin im französischen Gesundheitsministerium, Nora Berra, vor ihrem Beamtenjob für drei verschiedene Pharmakonzerne gearbeitet. Auch Präsident Sarkozy soll für den Industriellen Pharmagründer Jaques Servier, in jungen Jahren als Anwalt gearbeitet haben und ein Freund von ihm sein. Nun verspricht Sarkozy eine "absolute Transparenz" in der Affäre.
Autor: Gero Rueter (dapd)
Redaktion: Fabian Schmidt