"Der Trend geht zum Volksabitur"
30. August 2017DW: Warum gibt es in Deutschland 16 verschiedene Bildungssysteme?
Rainer Bölling: Das ist historisch gewachsen, schon im 19 Jahrhundert. Es gab die verschiedenen deutschen Bundesstaaten, die jeweils ihr eigenes Schulsystem hatten. Und erst danach kam 1871 die Reichsgründung. Es hat einen Versuch gegeben, das zu zentralisieren, das war in der NS-Zeit, aber damit war der Zentralismus natürlich politisch diskreditiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Besatzungsmächte den Föderalismus wiederhergestellt.
Also haben wir es mit einem Bildungsreichtum zu tun?
Ja, Reichtum einerseits, so wird es oft gesagt. Meine persönliche Sicht ist aber, dass die Unterschiede, die gerade in den letzten Jahren entstanden sind, deutlich über das hinausgehen, was man jetzt unter Reichtum positiv verbuchen würde.
Ist das Abitur noch ein Attest für die Bildungselite?
Bei Quoten für das Abitur von über 40 Prozent, mit Fachhochschulreife dann über 50 Prozent, kann man wohl nicht mehr von einer Elite sprechen. Der Trend geht in Richtung Volksabitur oder Abitur als Regelabschluss, das ist die Entwicklung.
1964 machten zehn Prozent eines Jahrgangs Abitur, 2016 deutlich über 50 Prozent. Produziert Deutschland zu viele Abiturienten?
Niemand kann für ein Land eine korrekte Quote nennen, wie viel Abitur-Absolventen gut sind für das Land. Das Problem, das wir haben, ist, dass die OECD seit Jahren höhere Quoten für Deutschland fordert, immer mit der Bemerkung, sonst drohe Deutschland der wirtschaftliche Abstieg. Diese Forderung nach immer höheren Abiturienten- und Akademikerquoten ist aber, wenn man das mal international vergleicht, gar nicht gerechtfertigt. In den südeuropäischen Ländern wie Frankreich, Italien, Griechenland, da erhalten zwar mehr als 70 Prozent eines Jahrgangs eine Studienberechtigung - was nicht gleich Abitur ist -, und zwar erhalten sie die, obwohl sie geringere Kompetenzen laut Pisa haben. Diese Vergabe von Berechtigungen ist sehr willkürlich im internationalen Vergleich. Die Länder mit den hohen Quoten haben die größeren ökonomischen Probleme, hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit und geringeres Volkseinkommen.
Es drängt sich der Verdacht auf, das das Abitur nicht mehr Gegenstand der Bildungspolitik, sondern längst Element der Sozialpolitik (Stichwort "Abi für alle!") ist…
Mittlerweile spielt es in beiden Politikfeldern eine Rolle. Mit der Forderung nach einer höheren Abiturientenquote war ja auch die Vorstellung verbunden, man könne soziale Gerechtigkeit herstellen, indem man möglichst vielen, wenn nicht gerade allen, dieses Abitur verleiht, weil das dann eben sozialen Aufstieg, gute Beschäftigungschancen und so weiter garantieren würde. Aber der internationale Vergleich zeigt, dass wir da auf dem Holzweg sind. Es ist in anderen Ländern eher umgekehrt gelaufen. Ein Abitur garantiert überhaupt nicht den späteren ökonomischen, beruflichen Erfolg, sondern es ist sehr ambivalent geworden.
Wie haben Sie denn Mitte der 1960er Jahre Abitur gemacht?
Damals gab es noch keine Auswahlmöglichkeiten, man war auf einem bestimmten Schultyp. Ich zum Beispiel war auf einem altsprachlichen Gymnasium und mit der Anmeldung durch meine Mutter am Gymnasium war festgelegt, welche Abiturfächer ich haben würde, nämlich Deutsch, Mathematik, Griechisch und Latein als schriftliche Fächer und dazu die verbindliche Sportprüfung. Bei Abweichung zwischen Vornoten in diesen Fächern und einer Abiturarbeit musste man dann in eine mündliche Prüfung gehen.
Wie viel Lebens-Praxisbezug im Abitur sollte, wie viel Allgemeinbildung muss sein?
Eine ewige Frage, solange es Bildungsdebatten gibt. Eine Abiturientin aus Nordrhein-Westfalen hat vor zwei Jahren mal getwittert, sie können in vier Fremdsprachen Gedichte analysieren, verstehe aber nichts vom Steuer- und Versicherungswesen. Zugegeben eine sehr polemische Wortmeldung. Was heißt Lebens- und Praxisbezug? Ich denke, das ist auch nicht der Gegensatz zur Allgemeinbildung, sondern da haben wir eher die Gegenüberstellung von Allgemeinbildung gegen Spezialisierung. Zur Allgemeinbildung gehört ja gerade, dass man in verschiedenen Bereichen Grundkenntnisse und Grundverständnisse erwirbt oder auch die Fähigkeit, sich selbstständig weiter zu informieren.
Steuer- und Versicherungswesen gehört für mich nicht dazu, jedenfalls nicht als schulische Aufgabe. Was hilft es dieser Schülerin, wenn sie im Abitur in diese Materie eintaucht? Bis sie diese Kenntnisse beruflich anwenden kann, hat sich das schon fast wieder überholt, weile andere Regeln gelten. Was allerdings stimmt: Grundlegendes über das Funktionieren der Wirtschaft kommt an der Oberstufe sicher zu kurz. Ein Defizit, würde ich sagen. Aber wenn besagte Schülerin tatsächlich Lyrik in vier Sprachen interpretieren kann, dann hat sie tatsächlich eine ganze Menge von der Schule mitgenommen - insbesondere mit Blick auf den Praxisbezug.
Rainer Bölling, 72, war Geschichtslehrer in Erkrath bei Düsseldorf. Er ist Autor des Buches „Kleine Geschichte des Abiturs".
Das Interview führte Volker Wagener