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Besuch in der Favela

Geraldo Hoffmann (stl)26. November 2006

Wer von Gewalt in Brasilien spricht, der denkt an Favelas, riesige Armenviertel aus Wellblechhütten. Rocinha in Rio de Janeiro ist die größte Favela Lateinamerikas. Auch hier gibt es Gewalt und Tourismus.

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Blick auf die Favela Rocinha in Rio de Janeiro
Blick auf die Favela Rocinha in Rio de JaneiroBild: Geraldo Hoffmann

In Brasilien werden rund 55.000 Menschen im Jahr ermordet, das sind 150 Menschen am Tag. Diese Zahlen beeindrucken, vor allem wenn der Besuch von Rocinha ansteht, der "gran Favela" von Rio de Janeiro. Favelas werden oft gleichgesetzt mit Gewalt und Unsicherheit.

Luciano Francelli von der Nichtregierungsorganisation Viva Rio warnt jedoch vor Panik: "Sicher, ich lebe in einer Stadt, in der es viel Gewalt gibt, aber das hindert mich nicht daran, zu tun und lassen, was ich will. Ich treffe meine Vorkehrungen. Was stimmt ist, dass die Unsicherheit zu großem Misstrauen führt", sagt er.

Die Organisation Viva Rio wurde 1993 nach einer Serie von brutalen Entführungen, nach dem Mord an acht Kindern nahe der Kirche Candelaria und dem Massaker im Viertel Vigário Peral mit 21 Toten gegründet. Sie kümmert sich um Projekte, die versuchen, die Gewalt in den 350 Favelas und Armenviertel in Rio einzudämmen. Einige Projekte werden von der Europäischen Union finanziert.

61 Morde pro Tag

Konfiszierung von Waffen in Rio de Janeiro
Konfiszierung von Waffen in Rio de JaneiroBild: AP

Der Bundesstaat Rio de Janeiro hat die höchste Mordrate Brasiliens. Jeder fünfte Mord im Land passierte 2004 und 2005 im Bundesstaat Rio. Allerdings sank in dieser Zeit die Zahl der Mordopfer pro Tag von 66 auf 61 pro 100.000 Menschen. Viva Rio schaffte es, 2005 eine halbe Million Waffen in den Vierteln einzusammeln.

Ein Tropfen auf den heißen Stein. In einer Volksabstimmung im Oktober 2005 sprachen sich fast zwei Drittel der Brasilianer gegen ein Verkaufsverbot von Waffen und Munition an Zivilpersonen aus. Für die Viva-Rio-Mitarbeiterin Mayra Jucá lässt sich die Gewalt aber nur eindämmen, wenn der Zugang zu Waffen unterbunden wird. 17,5 Millionen Waffen sind im Land im Umlauf, 90 Prozent davon im Besitz von Zivilisten.

Der 40-jährige Marcos Rangel führt Touristen durch die Favela. Für ihre Sicherheit bürgt er
Der 40-jährige Marcos Rangel führt Touristen durch die Favela. Für ihre Sicherheit bürgt erBild: Geraldo Hoffmann

Wenn man von Gewalt in Rio spricht, dann ist schnell von Rocinha die Rede, die größte Favela Lateinamerikas. Marcos Rangel von der Organisation Exotic Tours zeigt Touristen "seine" Rocinha, wo er vor 40 Jahren geboren wurde und wo er bis heute lebt. Rocinha ist für einen Fremden ein Labyrinth. 150.000 Menschen leben dort. "Hier in Rocinha kann ich für die Sicherheit der Touristen garantieren, draußen nicht", versichert er. "99,9 Prozent der Leute, die hier leben, sind Arbeiter, keine Verbrecher". Die Straßengangs lassen Touristen in Ruhe, wenn sie von jemandem aus dem Viertel begleitet werden. Sie wissen, die Fremden bringen Geld in das Viertel.

Gewalt und Samba

Rocinha hat sich gewandelt. Heute verfügt die Favela über die nötigste Infrastruktur. Es gibt Strom, fließendes Wasser, Kanalisation, Schulen, Geschäfte, öffentlichen Nahverkehr, Radiostationen, Banken und ein Einkaufszentrum. Und eine Fußballmannschaft. In der Samba-Schule von Rocinha, die immer am Umzug des Karnevals von Rio teilnimmt, üben Hunderte junger Leute zum Rhythmus ihrer Perkussion.

Isaura Paulino da Silva
Ein Sohn von Isaura Paulino da Silva verschwand vor 17 JahrenBild: Geraldo Hoffmann

Inmitten von einem Kuddelmuddel von Hütten, Baracken und Verschlägen gibt es den "Bahnhof der Zukunft", finanziert von der EU. Hier kann man Informatikkurse machen, billig ins Internet gehen. Ein bisschen weiter oben, im "Haus des Friedens" können sich die Bewohner kostenlos medizinisch behandeln lassen, sie bekommen Hilfe beim Erledigen von Papierkram und es gibt eine Bibliothek. "Hier ist der Staat präsent. Jeder wird betreute, auch Leute aus anderen Viertel, selbst die Söhne von Mafiosi", sagt der Beamte André Brouck.

Der Staat ist präsent, auch in Form eines Polizeiautos. "Hier ist fotografieren verboten", schnauzen vier Polizisten den Reporter von DW-WORLD an. Sie eilen herbei, mit der Pistole in der Hand. Ein brenzliger Moment. Trotz vielversprechender Projekte ist Brasilien noch sehr weit davon entfernt, das Problem der Gewalt und der Armut zu lösen. Die Armutsrate sank von 28 Prozent 2003 auf 23 Prozent 2005. Allerdings gelten 42,5 Millionen Brasilianer noch immer als arm. Sie müssen mit weniger als 43 Euro im Monat auskommen.

In der Samba-Schule wird für den Karnevalsumzug geübt
In der Samba-Schule wird für den Karnevalsumzug geübtBild: Geraldo Hoffmann

Der Fremdenführer Marcos zeigt Touristen von weitem auch die Orte in der Favela, wo sich Fremde besser nicht hinverirren sollten, wenn ihnen ihr Leben liebt ist. Wie die "Bocas de Fumo", die Orte, wo die Drogendealer ihre Ware verkaufen. Kriminelle der Organisation "Freunde meiner Freunde" (Amigos de mis Amigos) bewachen das Geschäft. Sie sind bis zu den Zähnen bewaffnet. Trotz der Gefahren gibt es Touristen, die dorthin gehen, um sich selbst mit Drogen einzudecken. In brasilianischen Gefängnisse gibt es zahlreiche Deutsche, die wegen Drogenkonsums einsitzen.

Gute Nachbarschaft als Lebensversicherung

Polizeiauto in der Favela
Die Polizei möchte nicht fotografiert werdenBild: Geraldo Hoffmann

Die 62-jährige Isaura Paulino da Silva lebt seit 40 Jahren in Rocinha. Um zu überleben, verkauft sie Eis auf der Straße oder am nahen Strand São Conrado. Sie verrät das Geheimnis, wie man am besten von den Drogendealern in Ruhe gelassen wird. "Ich mische mich nicht in ihr Leben, sie mischen sich nicht in meines". So einfach ist das. Die Favela verlassen, das kommt für sie nicht in Frage, obwohl sie hier in Rocinha ihren jüngsten Sohn verloren hat. "Er ließ sich mit den Drogendealern ein, verschwand vor 17 Jahren. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört", sagt sie.

Daniel Vinicius hatte mehr Glück als Isauras Sohn. Der 18-Jährige ist einer von 450 Schülern der Musikschule von Rocinha (EMR). Er erzählt, dass er dank der EMR den "Versuchungen des Drogengeschäfts" entkommen sei. Heute träumt er davon, groß raus zu kommen, irgendwann. Erst einmal geht es darum, zumindest die Favela zu verlassen und es auf die Musikhochschule zu schaffen. Die EMR finanziert sich mit Spenden aus Deutschland.

Daniel Vinicius
Daniel Vinicius hat der Gewalt abgeschworen, spielt jetzt ViolineBild: Geraldo Hoffmann/DW

Der Leiter der Schule, Gilberto Figueiredo, versichert, dass die Schule helfe, die jungen Leute von der Straße zu holen." Nicht immer klappe das, muss er einräumen. "Ex-Schüler von uns sind dem Drogenhandel oder der Prostitution verfallen". Aber bei Daniel ist er sich sicher, dass es keinen Rückfall geben wird. "Er ist wirklich ein talentierter Violinspieler".