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Besser in die weite Welt, als in den engen Bauch! Oder: Darm mit Charme

21. Juni 2014

Unser Darm – ein Tabu. Gerade in Gottesdienst, Andacht und Theologie. Zu Unrecht. Man könnte sagen: Ich pupse, also bin ich. Für die evangelische Kirche stellt Petra Schulze das Wunderwerk der Schöpfung vor:

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Darm Schema Medizin
Der DarmbereichBild: Fotolia/Sebastian Kaulitzki

„Ist nur Luft“

„Besser in die weite Welt als in den engen Bauch“, sagte meine Oma. Wenn sie im Alltagsgewusel zwischen Küche, Waschkeller und Garten hin und her hetzte, konnte sie schon mal ein paar knatternde Töne verlieren. „Ist nur Luft“, scherzte sie dann und wir Kinder kicherten und sagten im Chor: „Ja, ja, jedes Böhnchen gibt ein Tönchen“. Warum spreche ich als Pfarrerin über so ein Thema? Für den Darm und das, was aus ihm herauskommt, schämen sich die meisten Menschen. In der Bibel kommt er gar nicht zum Zug, sondern wird einfach nicht erwähnt. Schon viele Jahrhunderte vor Christi Geburt hatten andere Organe offenbar den Vorzug vor dem Darm erhalten. Das Judentum preist zum Beispiel das Herz als Sitz der Vernunft und die Kehle, die näfäsch. Die ist zugleich Sitz der menschlichen Seele und damit auch der Gefühle. (0) Später rühmen die Menschen das Gehirn – eine Meisterleistung. Wir können denken, lernen, Erfindungen machen. Aber was ist mit dem Darm? Der wird in Theologie und Medizin stiefmütterlich behandelt.

Der Reformator war entspannt

Dabei ist der Körper selbst immer wieder Thema des Glaubens – Glaube ist keine reine Kopfsache. Schon der Reformator Martin Luther, bekannt für seine derben Tischreden, bekannte 1529 im Marburger Religionsgespräch: „Das Wort der Heiligen Schrift sagt zum ersten: Christus hat einen Leib – das glaube ich.“ (1) Gegen ein weltabgewandtes und leibfeindliches Mönchtum predigte Martin Luther Lust am Leben, Lieben, Essen und Trinken. Scham für die Geräusche, Flüssigkeiten und Ausscheidungen des Körpers, die waren Luther offenbar fremd: „Wiltu aber den leib darumb verwerffen, das er rotzet, eitert und unrein machet, so stich dir selb den Hals abe.“ (2), soll er gesagt haben und stellte die These auf, dass vor dem Sündenfall «kein Gestank an dem Exkrement war», so die Oxforder Professorin Lyndal Roper in ihrem Essay «Der feiste Doktor». (3) Sie betont, dass Luther «verdauungsbezogene Metaphern [benutzte], um einige seiner tiefsten Einsichten zu vermitteln».

Der Darm vollbringt wahre Wunder

Dass der Darm mehr ist, als ein Verdauungsorgan, diese Erkenntnis bringt derzeit mit großem Erfolg Giulia Enders unter die Leute. Eine junge Medizin-Wissenschaftlerin aus Deutschland. In ihrem Buch „Darm mit Charme“ (3) führt sie unterhaltsam in die Welt eines Organs ein, das ein „völliges Ausnahmeorgan ist“ wie sie sagt. (S. 12)
Denn der Darm „bildet zwei Drittel des Immunsystems aus, holt Energie aus Brötchen oder Tofu-Wurst und produziert mehr als zwanzig eigene Hormone.“ (S. 13) Schon ganz früh in der Entwicklung der Embryonen spielt das Darmrohr eine Rolle:

Da gibt es einen „Schlauch“, - unser Blutgefäßsystem -, aus dem das Herz entsteht, einen zweiten, der unser Nervensystem ausbildet sowie das Gehirn und einen dritten, das so genannte Darmrohr, aus dem Lunge, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse, Speiseröhre und am Ende Dick- und Dünndarm selbst entstehen. (S. 18ff)
Der Darm und seine vielfältige Bakterienlandschaft ist mit dafür verantwortlich, wie wir uns fühlen. Menschen mit bestimmten Verdauungsproblemen haben häufig Nervenstörungen im Darm – das ist wissenschaftlich anerkannt, meint Enders. „Ihr Darm sendet dann Signale an einen Bereich im Gehirn, der unangenehme Gefühle verarbeitet, … Die Betreffenden fühlen sich unwohl und wissen nicht, warum das so ist.“ (S. 13) Fatal, wenn sie dann als Hypochonder abgetan werden.

Wir sind wunderbar gemacht

Giulia Enders öffnet die Augen für dieses Wunderwerk, das da in uns entstanden ist: Darm und Hirn – sie sprechen miteinander, erzählt sie. Der Darm gibt Informationen an verschiedene Hirnbereiche weiter. Zum Beispiel an den Hirnbereich, an dem vermutlich unser „Ich“ entsteht. Die Insula. „Die Insula bekommt Gefühlsinformationen aus dem gesamten Körper.“, schreibt Enders. „Jede Information ist wie ein Pixel – die Insula setzt aus vielen Pixeln ein Bild zusammen.“ Eine Landkarte der Gefühle gewissermaßen. Durch Zusammenarbeit mit anderen Hirnregionen entstehen Entscheidungen. Und die führen zu Taten, die das System ins Gleichgewicht bringen: Nach zu viel Bohnen, Zwiebeln und Kohlgemüse und dem passenden Signal aus der Nervenwelt des Darms, kann unser Gehirn dann schon mal die Entscheidung treffen: Jetzt mach ich mir Luft und entlaste den Darm, den angespannten Bauch. Den Satz von Descartes: Ich denke, also bin ich, wandelt Giulia Enders deshalb ab in: „Ich fühle, daraufhin denke ich, also bin ich.“ (S. 151f)

Wertschätzung und Hochachtung für unseren komplex aufgebauten Körper lernen wir nicht nur bei Giulia Enders, sondern schon von unseren Vorfahren im Glauben. Da heißt es in Psalm 139 (VV 13ff): „Gott, du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ Hätten unsere Vorfahren gewusst, was wir heute wissen: Sie hätten den Darm dabei nicht unerwähnt gelassen.

Quellen und weiterführende Informationen:
(0) Kurt Wolff: Anthropologie des Alten Testaments, München: Kaiser, 4., durchgesehene Auflage., 1984.
S. 25 ff napäs (näfäsch) – Kehle, Hals, Seele, Begehren, S. 68ff leb(ab) - Herz – eher ein Organ des Verstehens als des Fühlens, S. 102ff Das innere des Leibes: „Neben dem `Herzen` werden nur wenige innere Organe [im Alten Testament] benannt. Für Lunge, Magen und Därme hat das Alte Testament kein eigenes Wort, jedoch für Leber, Galle und Nieren.“ (S. 103)

(1) zitiert nach: Hans Mayer: Martin Luther. Leben und Glaube, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1982, S. 181 sowie etwas abgewandelt: „Das Wort sagt, dass Christus einen Körper hat. Das glaube ich“. FAZ 31.01.2012, Martin Luther Die Leibesfülle des feisten Doktors von Jürgen Kaube, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/martin-luther-die-leibesfuelle-des-feisten-doktors-11944004.html

(2) FAZ 31.01.2012, Martin Luther Die Leibesfülle des feisten Doktors von Jürgen Kaube, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/martin-luther-die-leibesfuelle-des-feisten-doktors-11944004.html
Zitiert nach Das XIIII. und XV. Capitel S. Johannis, durch D. Mart. Luth. gepredigt vnd ... von Martin Luther.
„Diese Derbheit ist bei Luther nicht die Ausnahme, sondern die Regel. `Luthers Körperlichkeit`?`, erklärt Roper, `war mit einigen seiner tief greifendsten theologischen Einsichten unauflöslich verbunden.` Sie habe einen zentralen Stellenwert für seine `Ablehnung des Mönchstums und mönchischer Verabscheuung von Sexualität, von Essen und Trinken` gehabt.“

(3) Zitate aus dem Buch der Oxforder Professorin Lyndal Roper und Historikerin «Der feiste Doktor“, Göttingen: Wallstein-Verlag, 2012, 78 Seiten zitiert nach „In Wanst und Würde“, Tagesanzeiger Schweiz, 08.11.2012, 10:36 Uhr, http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Wanst-und-Wuerde/story/18640298#clicked0.9118485944100524

(4) Giulia Enders: Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ mit Illustrationen von Jill Enders, Berlin: Ullstein, 2014.

Evangelische Pfarrerin Petra Schulze
Petra Schulze, DüsseldorfBild: Petra Schulze

Zur Autorin: Petra Schulze, Jahrgang 1965, studierte Evangelische Theologie, Publizistik und Sozialpsychologie in Bochum. Sie absolvierte eine Jahreshospitanz beim WDR-Hörfunk sowie ein mehrwöchiges Praktikum beim WDR Fernsehen in Köln und ist seitdem für den WDR und andere Sender als freie Journalistin tätig sowie u.a. für die Wochenzeitung »Unsere Kirche«. Sie war im Ennepe-Ruhrkreis als Pfarrerin für Öffentlichkeitsarbeit und als theologische Referentin in Dortmund tätig. Von 2006-2011 war Schulze die Evangelische Senderbeauftragte für das Deutschlandradio und die Deutsche Welle in Berlin. Ab November 2011 ist sie die Evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR in Düsseldorf.