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Kulturlabor Hanoi: eine vietnamesisch-deutsche Begegnung

7. Dezember 2010

E-Gitarre trifft auf vietnamesisches Saiteninstrument. Das Deutschland-Jahr in Vietnam bietet Raum für Experimente. Bei der "Open Academy" arbeiten Deutsche und Vietnamesen zusammen. Kann schwierig sein, aber auch schön.

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Eine Performance der 'Open Academy' Hanoi (Foto: DW / Aya Bach)
Bild: DW

"Ich fühle mich ganz schön allein in Vietnam", seufzt die junge Komponistin Kim Ngoc. Kein Wunder - sie ist die einzige Avantgarde-Komponistin ihres Landes. "Wenn ich eine Aufführung habe, gibt es niemanden, der kritisch draufschaut", erzählt sie in der Probenpause im Künstlerhaus Nha San Duc. Heute ist Gelegenheit zum Austausch da; der Berliner Experimental-Schlagzeuger Michael Vorfeld und zwei vietnamesische Kollegen sind mit Elektronik und E-Gitarre zum Workshop der "Open Academy" gekommen.

Musik bis zur Schmerzgrenze

Das Nha San Duc ist der richtige Ort dafür. Seit zehn Jahren ist es der Treffpunkt der freien Kunstszene Hanois, wie durch ein Wunder geduldet von den offiziellen Kulturbehörden, die sonst mit Argusaugen über das Treiben der Kulturmenschen wachen. Abseits der großen Straßen, versteckt zwischen geduckten Häusern und umgeben von Hundegebell, findet das vietnamesisch-deutsche Quartett schnell einen gemeinsamen Sound. Es wummert und dröhnt und rockt, manchmal bis zur Schmerzgrenze. Auch Kim Ngoc, ein Wesen von elfenhafter Statur, rückt ihrem traditionellen vietnamesischen Saiteninstrument unerbittlich zu Leibe.

Umweltschutz und Performance-Kunst

Die Musikerin Kim Ngoc bei einem Konzert der 'Open Academy Hanoi' (Foto: Vu Huy Thong)
Musik als Experiment: Konzert im Goethe-InstitutBild: Vu Huy Thong

Das Ergebnis der Probe wird später beim Konzert im Goethe-Institut Hanoi zu hören sein. Denn "Goethe" ist Veranstalter der Workshop-Reihe mit dem programmatischen Titel "Open Academy". Sie bringt Künstler verschiedener Disziplinen aus Deutschland und Vietnam zusammen. Von Hanoi im Norden über Hue in der Mitte bis Ho Chi Minh Stadt im Süden und gleich über mehrere Wochen erstreckt sich die Academy. Damit zählt sie zu den großen Veranstaltungen des Deutschland-Jahres in Vietnam, das aus Anlass der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor 35 Jahren ein umfangreiches Programm aufbietet – von Fachkonferenzen zum Umweltschutz bis zu Tanz-, Musik- und Filmprogrammen reicht die Palette. Darunter war übrigens auch eine Performance von Kim Ngoc im Opernhaus von Hanoi.

Solche Unterstützung ist bei den Künstlern der freien Szene hochwillkommen. Denn der Bereich, in dem etwa Kim Ngoc arbeitet, ist in Vietnam die Sache einer winzigen Minderheit: "Im Gegensatz zu Deutschland gibt es fast niemanden hier, der experimentelle Musik macht", sagt sie. Eine Ursache sieht sie in der konservativen Ausbildung an den Hochschulen. "Aber es ist auch eine Chance, etwas Neues zu initiieren und Grenzen aufzubrechen. Mir gibt das eine besondere Energie zu arbeiten und zu leben."

Studenten der Kunsthochschule Hanoi beim Video-Workshop (Foto: Aya Bach)
Professioneller Blick: Studierende der Kunsthochschule im Video-WorkshopBild: DW

Von der Staatskunst zur freien Szene

Die wird sie auch brauchen, denn die kulturpolitische Landschaft lässt sich nicht so schnell umpflügen. Kunst war in Vietnam jahrzehntelang ausschließlich Staatskunst. Die freie Szene, etwa in der bildenden Kunst, entwickelt sich erst seit den 1990er Jahren. Und nach der langen Abschottung des Landes sind Impulse von außen mittlerweile erwünscht – aber bitte mit Vorsicht.

Zu den erstaunlichen Zeichen der Öffnung zählt, dass die Open Academy mit einigen Workshops an der altehrwürdigen Kunsthochschule Hanoi zu Gast ist. Zu verdanken ist das nicht zuletzt der Kuratorin Veronika Radulovic. Die Berliner Künstlerin hat zwölf Jahre lang in Hanoi gelebt und als Gastdozentin des DAAD an der Kunsthochschule gelehrt. Doch die Workshops dort anzusiedeln, ist in ihren Augen immer noch ein politischer Balanceakt: "Das hat auch deswegen funktioniert, weil Direktor und Hochschulleitung die Idee wunderbar begleitet und positiv aufgenommen haben".

Kontrastprogramm zu Lack und Öl

Veronika Radulovic, Kuratorin der "'Open Academy' in Hanoi (Foto: Aya Bach)
Lebte 12 Jahre in Hanoi: Kuratorin Veronika RadulovicBild: DW

Tatsächlich hat die Hochschulleitung Master-Studenten und junge Lehrende zur Open Academy geschickt. Performance, Video, Installationen - das alles liegt abseits der üblichen Ausbildung, die in konfuzianischer Tradition noch immer das Kopieren der verehrten Meister ins Zentrum stellt. Wie seit eh und je sind Lack- und Ölmalerei die Königsdisziplinen. Und jetzt rückt auf einmal Workshop-Leiter Andreas Schmid mit Leuchtstoffröhren und buntem Klebeband an. Die jungen Künstler sind skeptisch, machen sich dann aber mit Begeisterung ans Werk. In kürzester Zeit schaffen sie im unwirtlichen Treppenhaus die Illusion eines mehrdimensionalen Kunst-Raumes. Führt nicht die Treppe auf einmal ins Freie? Die Installation darf nun sogar auf Dauer bleiben.

Rasender Wandel

Schneller als der kulturelle geht allerdings der ökonomische Wandel. Innerhalb weniger Jahre hat sich das Stadtbild Hanois drastisch verändert. Zwar gibt es noch immer die zahllosen Straßenimbisse, wo man sich, auf winzigen Plastikhockern auf dem Trottoir kauernd, von früh bis spät durch die vietnamesische Küche essen kann. Daneben aber schießen Luxusrestaurants und Edelboutiquen aus dem Boden. Doch während Calvin Klein oder Gucci willkommen sind, tut sich die Politik mit aktueller Kultur vielfach noch schwer. Noch immer muss jede Ausstellung durch die Zensur. Und eine öffentliche Kultur-Debatte findet nicht statt.

Straßenimbiss in Hanoi: Alter Stil und neuer Chic (Foto: Aya Bach)
Alte Gewohnheit, neuer Chic: Straßenimbiss in HanoiBild: DW

Derweil bläst die "Open Academy" frischen Wind durch die Hochschule. Im Workshop von Juliane Heise soll ein alternativer, radikal subjektiver Stadtplan von Hanoi entstehen, "City Mapping" heißt das Zauberwort. In den Augen mancher Studierenden ist das eher ein Spiel als ernstzunehmende Kunst. Denn statt Kontemplation vor der Leinwand gibt es hitzige Diskussionen im Team. "Das haben wir noch nie erlebt", heißt es unisono. Und eine Studentin meint: "Normalerweise muss ich erahnen, was die anderen denken. Jetzt weiß ich es! Es wäre schön, mehr solcher Workshops zu haben".

Kolonialzeit und Zukunftsträume

Doch im Alltag läuft die Ausbildung an der Kunsthochschule in traditionellen Bahnen. In der Lackmalerei-Klasse etwa entstehen Arbeiten, von denen manche aussehen, als wäre die Zeit bald nach der Hochschulgründung 1925, während der französischen Kolonialzeit, stehengeblieben. Doch die Studierenden haben große Zukunftsvisionen: "Ich würde am liebsten eine berühmte Malerin in Vietnam werden, meine Bilder würden im Ausland gezeigt", sagt eine von ihnen, "und jeder auf der ganzen Welt würde Kunst aus Vietnam kennen! Wir alle haben den gleichen Traum".

Eine Studentin der Kunsthochschule Hanoi arbeitet an einem Lack-Gemälde (Foto: Aya Bach)
Klassisches in Lack: Die Ausbildung ist konservativBild: Aya Bach

Doch viele Bilder, die hier entstehen, dürften auf dem internationalen Kunstmarkt chancenlos sein. Nur - wie sollen die Künstler das einschätzen? Ihr Land hat Außenkontakte lange verhindert; da ist es kaum möglich, den eigenen Standort zu definieren. Das zu erleichtern, ist auch ein Anliegen der Open Academy. "Als Künstler in Vietnam wird man häufig hofiert, weil man eingebunden ist in ein nationales Netz. Dann heißt es schnell, 'he is very famous'", erklärt Kuratorin Veronika Radulovic, "aber das heißt ja erst mal noch gar nichts. Dazu bräuchte man mehr Informationen über die wirklich hohe Qualität internationaler Kunst!"

Ästhetischer Hunger

An Neugier auf den Rest der Welt mangelt es nicht. Selbst ein Workshop, der mit Musik von Richard Wagner ein eigenwilliges Crossover aus Oper, Skulptur, Performance und Video anbietet, findet Resonanz. Tagelang haben junge Vietnamesen bei Isoldes Liebestod mitgelitten, kulturelle Gräben übersprungen, sich mit aktuellen Entwicklungen in Sachen Performance vertraut gemacht. "Wir hätten den ganzen Tag Videos von Christoph Schlingensief zeigen können, der ästhetische Hunger ist unglaublich groß", erzählt Workshop-Leiterin Veronika Witte.

Workshop der 'Open Academy' Hanoi (Foto: Aya Bach)
Neue Wege: Kunststudenten im begehbaren StadtplanBild: Aya Bach

Doch mindestens so groß ist der Hunger nach internationaler Anerkennung. Den kann die "Open Academy" immerhin häppchenweise stillen. So wie im Video-Workshop von Maria Vedder. Das Medium ist fast neu für die Studierenden, erst einen Kurs gab es bisher für sie. Aber mit künstlerisch geschultem Blick setzen sie Straßenszenen ins Bild: Wie der junge Mann virtuos Zuckerrohr schneidet und frische Drinks daraus presst - im Video wird es als Ritual erkennbar. Eine Frau versucht ihr Fahrrad zu besteigen und scheitert immer wieder, weil irgendwas hakt und klemmt – ein grandioser Slapstick.

Klischees korrigiert

Die Ergebnisse sind frappierend, und Maria Vedder korrigiert gleich ein Klischee, mit dem sie angereist war, weil die vietnamesische Ausbildung so viel Wert auf das Kopieren legt: "Ich dachte, wenn jemand gut kopiert, kann er selbst keine guten Bilder machen. Dieses Vorurteil musste ich zur Seite schieben." Und als die Kunst-Professorin die Arbeiten ihres Teams öffentlich präsentiert, sagt sie einen Satz, den man in Deutschland nur als launige Bemerkung verstehen würde, ihr hier aber enthusiastischen Applaus einträgt: "Wir erleben jetzt eine Weltpremiere".

Die Welt, zumindest ein kleines Stück davon, ist in Hanoi. Schließlich finden sogar die Musiker, die unter Hundeprotest geprobt haben, ein überraschend großes Publikum. Die Sitzplätze im Innenhof des Goethe-Instituts reichen nicht aus, und das liegt nicht nur an den ausländischen Besuchern. Eines Tages, so scheint es, könnte die Einsamkeit der Avantgarde-Musiker in Hanoi ein Ende haben. Und vielleicht ist es ein gutes Omen, dass sich ihre Improvisation mit der unendlichen Polyphonie der Mopeds und Autohupen vereint und in den Abendhimmel über der Stadt entschwebt.


Autorin: Aya Bach
Redaktion: Ramón García-Ziemsen