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Politik

Bürger und Spießbürger

15. September 2019

Ist die AfD eine bürgerliche Partei? Nein, erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Doch was heißt das eigentlich, Bürgertum? Eine Spurensuche.

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Prof. Johann Peter Hasenclever | Das Lesekabinett
Das Bürgertum im Aufbruch: "Das Lesekabinett" von Johann Peter Hasenclever, 1843Bild: Gemeinfrei

Was bedeutet "Bürgertum"? Seit einigen Monaten erlebt der Begriff eine Renaissance. Jahrelang kaum bemüht, findet er sich nun in der politischen Debatte wieder, und zwar nicht nur irgendwo an deren Rand, sondern in ihrem Zentrum. Wie prominent der Begriff geworden ist, zeigte sich vor einigen Tagen, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihn aufgriff und verteidigte: gegen die rechtspopulistische AfD, die für sich in Anspruch nimmt, eine "bürgerliche" Partei zu sein.

Steinmeier widersprach: Bürgerlich sei die AfD nicht. Das Bürgertum stehe für Institutionen wie den Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte. "Wer sich in dieser Tradition sieht, der kann nicht gleichzeitig einem ausgrenzenden, autoritären oder gar völkischen Denken huldigen", sagte Steinmeier. "Das ist das Gegenteil von bürgerlich: Es ist antibürgerlich."

Der Begriff ist offenbar unscharf geworden. Noch vor einigen Jahren war das anders. Da war klar, was das Bürgertum politisch bedeutete und was man sich unter einer politischen bürgerlichen Partei vorzustellen hatte. Sprach man von ihr, so der Politikwissenschaftler Rudolf Korte, so dachte man vor allem an zwei Parteien: CDU und FDP.

Ursprünge des Bürgertums

Frank-Walter Steinmeier
Bürgertum als "Verteidigung der Freiheit": Bundespräsident Frank-Walter SteinmeierBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Die Partei der Christdemokraten und die der Freien Demokraten repräsentierten jene sozialen Schichten, die sich seit dem 18., 19. Jahrhundert nach oben gekämpft oder gearbeitet hatten: In Frankreich geschah das 1789 auf Grundlage einer blutigen, gegen König und Adel gerichteten Revolution. Und in Großbritannien in Form einer bedächtigen Evolution. Das wichtigste politische Dokument des englischen Bürgertums, die "Bill of Rights" aus dem Jahr 1689, trug dazu bei, das System der modernen Demokratie zu begründen.

Auch in Deutschland  entwickelte sich das Bürgertum in einem langen, allmählichen Prozess, der im Jahr 1848 mit dem Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche zu einem ersten großen politischen Triumph führte.

Bürgertum: Das war europaweit ein Jahrzehnte anhaltendes Kräftemessen mit dem bis dahin herrschenden Adel. Es war der Versuch, politische Grundrechte auf eine feste juristische und politische Basis zu stellen. Und noch etwas leistete das Bürgertum: Es kultivierte einen Gemeinsinn, stand für den Willen, sich für das gemeinsame Wohl aller zu engagieren.

Bürgerliche Tugenden - und ihre Kehrseite

Allerdings kennzeichnete sich das Bürgertum durch noch etwas: nämlich den Willen zum Besitz. Fleiß, Ordnungsliebe, Lernbereitschaft und Bildung: Sie alle gelten als bürgerliche Tugenden, praktiziert freilich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch mit dem Ziel, das eigene Wohlergehen zu garantieren. 

So war das vom Bürgertum entwickelte Arbeits- und Leistungsethos auf das engste verbunden mit dem Anspruch, ökonomisch unabhängig zu sein. Eben dadurch geriet es in Gegensatz zu den sozialistischen oder sozialdemokratischen Programmen des 19. Jahrhunderts, die sich für den Wohlfahrtsstaat stark machten: ein Anliegen, das dem Bürgertum - zumindest in der konsequenten Ausformulierung der linken Parteien - fremd war.

Offenheit, Nüchternheit, Sinn für Rechtstaatlichkeit - diese Eigenschaften gehören genauso zum Bürgertum wie Besitzstandswahrung, Sicherheitsbedürfnis, ein womöglich exzessiver Sinn nach Sicherheit auf Kosten von Risikobereitschaft und Wagemut - die Kehrseite des Bürgertums, artikuliert in Begriffen wie "Spießbürgertum" und "Bourgeoisie".

Kurt Tucholsky / Portraetaufnahme um 1908
"Das bürgerliche Zeitalter ist dahin": Kurt TucholskyBild: picture-alliance/akg-images

Der Ruin des Bürgertums

"Das bürgerliche Zeitalter ist dahin", schrieb der Dichter Kurt Tucholsky im Jahr 1920. "Was jetzt kommt, weiß niemand." Tucholsky hatte einen feinen Sinn: Er spürte, dass das Bürgertum nach dem Ersten Weltkrieg und der für Deutschland harten Friedensordnung um sein Wohlergehen fürchtete, dass es an seine Zukunft kaum mehr glaubte.

Die Konsequenz zeigte sich 1933: Die Nationalsozialisten kamen durch demokratische Wahlen an die Macht. Nochmals einige Jahre später entfachten sie den Zweiten Weltkrieg und ermordeten die europäischen Juden.

Das Bürgertum ist nicht allein für den Sieg der NSDAP verantwortlich, Hitlers Partei wurde auch von anderen gewählt. Auch wählten längst nicht alle Mitglieder des Bürgertums die Nationalsozialisten. Doch seit dem Jahr 1945 stand das Bürgertum unter massiver Kritik: Es musste sich fragen lassen, warum sich viele seiner Mitglieder nicht gegen die Nationalsozialisten gestellt hatten und für bürgerliche Werte eingetreten waren. Der Historiker Friedrich Meinecke, Gründungsdirektor der Freien Universität Berlin, machte bereits unmittelbar nach Kriegsende in seiner Schrift "Die deutsche Katastrophe" für den Aufstieg der Nationalsozialisten die "weit zurückreichende saeculare Entartung des deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalgedankens" verantwortlich.

Heute, in Zeiten der Globalisierung, gerät das Bürgertums in ganz anderer Hinsicht an seine Grenzen: "Die akademisch ausgebildete urbane Mittelschicht wird zunehmend in die globale Oberschicht integriert, während die in den Regionen und Kleinstädten angesiedelte mittlere und untere Mittelschicht zunehmend in die Defensive gerät und ein unbedingtes Interesse am Erhalt eines exklusiv nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraums hat, notfalls auch durch Abkopplung von der Globalisierung." So beschreibt es die Soziologin Cornelia Koppetsch in ihrem Buch "Die Gesellschaft des Zorns".

Nürnberg - Zeppelintribüne 1936
Abgrund auch des Bürgertums: Die NSDAP, hier ein Aufmarsch aus dem Jahr 1936Bild: picture-alliance/akg-images

Bürger und Spießbürger

Das Bürgertum ist von Neuem herausgefordert. Es zeige sich, so Bundespräsident Steinmeier in dem "Spiegel"-Interview, "in der Verteidigung der Freiheit, der Anerkennung des Individuums und damit auch im Respekt vor Andersdenkenden". Damit umriss Steinmeier präzise die helle Seite des Bürgertums. 

Deutlich zeigt sich in letzter Zeit aber auch die dunkle Seite des Bürgertums: Angst vor Veränderung, Beharren auf dem Status quo, Angst vor dem Aufbruch. Von einer einzigen bürgerlichen Klasse kann man darum nicht mehr sprechen: Es gibt engagierte Bürger, und es gibt Spießbürger. In den ökonomisch sorglosen Zeiten der 60er, 70er und 80er Jahre waren beide Gruppen in den "bürgerlichen Parteien" vereint, die Unterschiede waren zu klein, um den Rahmen dieser Parteien zu sprengen. Heute aber, in ökonomisch unsicheren Zeiten, zeigen sich die Unterschiede immer deutlicher, auch im Wahlverhalten. Bürger und Spießbürger gehen parteipolitisch getrennte Wege.

"Behalten Sie den Mut"

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika