Autisten sind anders
Autismus ist nicht gleich Autismus. Eine ganze Palette unterschiedlicher Verhaltensweisen gehören zu den sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen.
Personen mit Asperger-Syndrom - berühmte Beispiele sind Unternehmer Elon Musk oder Klimaaktivistin Greta Thunberg - können über außergewöhnliche Begabungen verfügen. Diese werden gerne medienwirksam in Szene gesetzt oder ihre Geschichte ist Basis für einen Film. Einer der bekanntesten ist der Film ‘Rain Man‘ aus dem Jahr 1988.
Dustin Hoffman spielt den Autisten Raymond, der sich zwar Unmengen von Zahlen merken kann, aber unfähig ist, seinen Alltag zu bewältigen und der in einem Heim für Menschen mit Behinderung lebt. Der Film basiert auf dem Leben vonKim Peek. Der Amerikaner verfügte über eine sogenannte Inselbegabung und konnte nach eigener Aussage den Inhalt von 12.000 Büchern nahezu auswendig.
Sie selbst betreue einen solchen Patienten mit Hochbegabung, erzählt sagt Professorin Hannelore Ehrenreich. Sie leitet die Abteilung Klinische Neurowissenschaften am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen.
"Wenn Sie ihn fragen, was im Telefonbuch auf Seite 923 in der mittleren Spalte steht, dann kann er Ihnen das problemlos sagen. Aber er schafft es nicht, sich morgens anzukleiden. Er zieht zuerst die Schuhe an und dann die Hose. Das heißt, er braucht Hilfe."
Seine Störung könne durchaus als Krankheit eingestuft werden. "Eine Definition von Krankheit bei Erwachsenen ist, sich nicht um sich selbst kümmern zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein", sagt die Neurologin.
Eines der wichtigsten Merkmale ist, dass Autisten Schwierigkeiten haben, mit anderen Menschen zu kommunizieren, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Typische Symptome
Einem Autisten kann es schwerfallen, sich in andere hineinzuversetzen, Regeln zu verstehen, die andere intuitiv erfassen. Aber auch sich auf Veränderungen einzustellen und sich in ungewohnten Situationen zurechtzufinden, kann für Autisten ein Problem sein.
Körperhaltung oder Gesichtsausdruck anderer Menschen zu erkennen und zu deuten, ist für Autisten oft nicht möglich. Diese Art von nonverbaler Kommunikation klingt für viele mit einer ausgeprägten Autismus-Form wie eine Fremdsprache. Sie können nichts damit anfangen.
Besonders wichtig ist häufig das Einhalten von Ritualen. Da muss beispielsweise der Bleistift immer am selben Platz liegen und in einem bestimmten Winkel zum Radiergummi. Diese Ordnung darf niemand verändern.
"Es gibt Autismus-Spektrum-Störungen, bei denen sämtliche autistischen Symptome in sehr starker Form auftreten. Dazu zählen auch die sogenannten syndromalen Autisten. Bei ihnen liegen oft schwere Entwicklungsstörungen zugrunde, die dann unter anderem zu den für Autismus typischen Symptomen führen", sagt Ehrenreich.
"Autismus ist eine äußerst komplexe Störung. Die Forschung dazu muss von verschiedenen Fachrichtungen kommen", sagt sie. Wichtige Säulen dabei sind die Psychiatrie und die Neurologie, aber auch die Genetik und die Neurobiologie. Nur so sei es möglich, für bestimmte Autismusformen wirksame Therapien zu entwickeln. Das kann beispielsweise notwendig sein, wenn weitere schwerwiegende Probleme hinzukommen.
Das können neurologische Entwicklungsstörungen sein, Schwierigkeiten in der Feinmotorik oder auch ausgeprägte, repetitive Bewegungen. "Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Kind immer in der Ecke sitzt und ununterbrochen mit dem Kopf wackelt oder die Hände wringt, also sogenannte Manege-Bewegungen macht."
Lieber autistisch als schizophren
Die Diagnose 'Autist', müsse unbedingt von Personen getroffen werden, die sich in dieser Fachrichtung gut auskennen. "Es gibt verschiedene Instrumente und Tests, die bei der Diagnose helfen und sie untermauern. In entsprechenden Zentren können Spezialisten diese Tests durchführen", sagt Ehrenreich. Es genüge eben nicht, Psychiater oder Neurologe zu sein. Um feststellen zu können, ob es sich wirklich um Autismus handelt und um welche Form seien viel Erfahrung und viel Fachwissen nötig.
"Etwa die Hälfte der Personen, die zu uns mit Verdacht auf Autismus geschickt werden, haben gar keinen Autismus. Da sind die Diagnosen einfach falsch. Hinzu kommt, dass Autismus zu einer Art Modediagnose geworden ist", erklärt Ehrenreich. Die meisten gelten lieber als ‘Autist‘ als dass sie die Diagnose 'schwere Persönlichkeitsstörung' oder 'Schizophrenie' akzeptieren, obwohl Schizophrenie mittlerweile durchaus medikamentös behandelt werden kann.
Spezielle Medikamente für Autisten mit schweren Störungen gibt es nicht. Keines der potentiellen Medikamente habe zu einem Durchbruch geführt, wie etwa der körpereigene Botenstoff Oxytocin, der direkt im Gehirn wirkt. "Als Hormon gelangt Oxytocin über die Blutbahnen in den Körper. Man hat festgestellt, dass es in der Lage ist, bei autistischen Menschen die soziale Interaktion kurzfristig zu verbessern. Es hat jedoch keinen bleibenden Effekt. Aber es könnte Autisten durch diese neue Erfahrung, die sie machen, dazu anregen, eine Verhaltenspsychotherapie zu beginnen." Zunächst aber muss eine möglichst fundierte und eindeutige Diagnose gestellt werden.
Eye-Tracking
Aufbauend auf der Beobachtung, dass Autisten Blickkontakt weitestgehend vermeiden, haben Wissenschaftler sogenannte Eye-Tracking-Versuche gemacht. Dabei zeichnet eine Kamera die Augenbewegungen auf. "Mit diesem Eye-Tracking sieht man, dass der Autist nicht auf die Augen oder den Mund seines Gegenübers blickt, so wie die meisten Menschen, sondern in Gesichtsregionen, die für die Kommunikation kaum eine Rolle spielen. Sie blicken dann etwa auf den Hals oder auf die Wange," sagt Ehrenreich.
Thermografie
Ein weiteres Instrument ist die Thermografie. Sie kann Aufschluss über die Oberflächentemperatur im Gesicht eines Menschen geben. "Dabei sehen Sie ganz charakteristisches Verhalten von Wärme und Kälte im Gesicht. Wir konnten zeigen, dass soziale Stimuli eine Veränderung der Thermo-Reaktion im Gesicht bewirken. So können wir soziale Stimuli von rein kognitiven Stimuli unterscheiden, also von solchen, die auf Wahrnehmung und Denken unabhängig von sozialer Interaktion basieren", erläutert Ehrenreich.
"Derartige Untersuchungen führen zu einem relativ objektiven Maßstab für eine Diagnose, denn sie können zeigen, wie groß der Stress ist, der für einen Autisten bei einer Interaktion mit anderen entsteht." Ein solcher Test kann Medizinern und Forschern dabei helfen, die Mechanismen und die Ursachen von Autismus besser zu verstehen.
Gesammeltes Wissen
Mittlerweile gibt es eine umfangreiche Datenbank. Ehrenreich hat sie 2004 gestartet. Darin sind nicht nur Autisten registriert, sondern auch Menschen mit Schizophrenie. Mithilfe dieser Datenbank können die Wissenschaftler sogenannte Phänotypenerkennen und beschreiben. Diese bezeichnen die Menge aller Merkmale, die ein Organismus hat, auch Verhaltensmerkmale. Gerade die sind für das Verständnis von Autismus unerlässlich.
"Als ich diese Datenbank gestartet habe, hat man mich nicht immer richtig ernst genommen. Viele dachten, man könne mithilfe von genetischen Untersuchungen oder Blutanalysen so gut wie alles finden. Heute aber ist bekannt, dass wir ganz viel über einen Menschen wissen müssen, um zu verstehen, wo bestimmte Störungen und Probleme ihren Ursprung haben."
Die Datenbank soll dabei helfen, Probanden möglichst korrekt einzuordnen. Dabei geht es unter anderem darum, wie schwer einzelne Probanden betroffen sind und ob man sie in Gruppen mit ähnlichen Merkmalen zusammenfassen kann. "Unser Ziel ist es, aus dieser Heterogenität mehr Informationen zum Autismus und dessen biologischen Ursachen zu ziehen."
Bei schweren Fällen kann auch das zu gezielteren Therapien führen. "Wenn ich weiß, was biologisch die Ursache für eine Störung ist, kann ich sie besser behandeln", resümiert Ehrenreich. Hierfür kommen vor allem genetische Ursachen infrage. Aber auch sehr früh einwirkende Umweltfaktoren, beispielsweise Infektionen während der Schwangerschaft, also in der Gebärmutter, können eine Rolle bei der Entwicklung von Autismus spielen.
Der Autist in uns
"Autistische Merkmale sind nicht immer eine Krankheit, sondern Teil des normalen menschlichen Verhaltensrepertoires", betont Ehrenreich. Erst im Extremfall resultiert daraus eine Störung oder Krankheit. "Wenn wir die ganze Bevölkerung nehmen und bei jedem Einzelnen seine autistischen Züge messen würden, dann bekämen wir ein sehr breites Spektrum. Wir würden wahrscheinlich eine ganze Menge Menschen finden, die deutliche autistische Merkmale haben", spekuliert Ehrenreich.
Wenn sie beispielsweise durch die Gänge des Max-Planck-Instituts gehe, begegneten ihr immer wieder Menschen, die starr auf den Boden blickten, ganz in ihre eigene Daten-Welt versunken und in keiner Weise kommunikationsfreudig. "Aber das hat ja auch Vorteile. Als Wissenschaftler ist es toll, wenn sie nicht Party machen, sondern intensiv an ihrer Forschung arbeiten."
(Dieser Artikel wurde am 10.05.2021 aktualisiert)