Leben in den Karpaten
1. Februar 2011Mitten auf einer verschneiten Waldlichtung im Hulski-Tal in den südostpolnischen Waldkarpaten steht ein Bauwagen. Hier lebt der Deutsche Henri Schumacher seinen Traum von der Wildnis. Das nächste Haus ist zwei Kilometer entfernt, die Ukraine liegt näher als das nächste Krankenhaus. Schumacher, Mitte 40, groß, hager, langes Haar, kam 1990 in die Gegend, um ein Aussteiger-Camp zu organisieren und er blieb.
Tiere wie sonst nur im Märchen
Ein Topf klappert, ein Ofen bollert, Schumachers Tochter Jolla ruft nach Tee: Im zwölf Quadratmeter großen Bauwagen lebt Schumacher mit seiner polnischen Frau und ihren zwei Kindern. Ein Tisch, zwei Betten, darüber Bücherregale, mehr braucht die Familie nicht. "Ich habe die Wildnis gesucht", sagt Schumacher. "Hier gibt es all die Tiere, die es sonst nur im Märchen gibt: Bären, Wölfe und Luchse."
Doch die Wildnis war nicht immer wild. Das Tal war wie der gesamte polnische Südosten einst dicht besiedeltes Bauernland. Die verwachsenen Obstbäume hinter seinem Bauwagen gehörten früher den Lemken und Bojken. Die kulturell mit den Ukrainern verwandten Völker lebten seit dem Mittelalter im polnischen und westukrainischen Teil des Karpatenbogens. Sie sprechen eine eigene Sprache und schreiben mit kyrillischen Buchstaben. Zwei Mal wurden die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben: das erste Mal während des Zweiten Weltkrieges in Richtung Ukraine. Das zweite Mal während der Aktion Weichsel 1947 in Richtung Westen. Damals rückte die polnische Armee in die Dörfer ein und warf den Lemken und Bojken vor, während des Krieges mit der antisowjetischen, ukrainischen Partisanenarmee UPA und der Wehrmacht kollaboriert zu haben. Die Armee machte die Bauernhöfe, die prächtigen Holzkirchen, Sägewerke und Obstgärten dem Erdboden gleich.
Zerstörte Holzkirchen
Die Soldaten kamen damals auch in das Haus von Anna Sokolowska. Die 72-jährige Bojkin sitzt zwei Kilometer von Henri Schumachers Bauwagen entfernt auf einer Bank und schaut in die Landschaft. Zwei verfallene Mauern auf einem kahlen Hügel - das ist alles, was von dem Dorf geblieben ist, in dem Sokolowska ihre Kindheit verbrachte. Die Soldaten haben damals ihr Haus angezündet, erinnert sie sich. "Als wir am Fluss waren, habe ich die Rauchwolken und das Feuer gesehen. Die Strohdächer haben ja schnell gebrannt." Zurück blieb eine menschenleere Landschaft. Seit den 1970er-Jahren zieht sie Aussteiger aus den polnischen Großstädten an - und den Deutschen Henri Schumacher.
Als er im vergangenen Frühjahr hinter seinem Bauwagen ein neues, größeres Holzhaus baute, stieß er auf das Fundament eines ehemaligen Bojkenhauses: "Wir haben ein Stück Ofenblech gefunden, einen Zahn, dann etwas, was so aussah wie Knochenreste. Und auch viele Nägel und verkohlte Balken." Ganz bewusst knüpft der Zimmermann aus Deutschland an das Leben der Vertriebenen an. Die Steine ihrer Fundamente seien jetzt die Steine für sein Fundament, sagt er. Ein paar Kilometer entfernt von Schumachers Tal werden inzwischen sogar die prunkvollen Holzkirchen der Lemken und Bojken wieder aufgebaut - in erster Linie für die vielen Wandertouristen in der Gegend. Für die Vertriebenen aber sind sie ein Zeichen: dafür, dass man sie nicht vergessen hat.
Autor: Robert Schimke
Redaktion: Julia Kuckelkorn