Ausblick auf 2022: noch ein Pandemiejahr!
30. Dezember 2021Wie sich die Dinge gleichen! Das mit Abstand wichtigste Thema der Deutschen vor einem Jahr war - die Corona-Pandemie. So wie jetzt an der Schwelle zu 2022 auch wieder. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Damals gab die bevorstehende Impfkampagne noch Hoffnung auf eine baldige Lösung.
Ein Jahr und weit über hundert Millionen Impfdosen später liegen die Ansteckungszahlen noch deutlich höher als damals. "Ganz Deutschland ist ein einziger großer Ausbruch", sagte Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts, Mitte November zur Corona-Lage.
Um mehr Menschen zur Impfung zu bewegen, könnte es bald sogar eine allgemeine Impfpflicht geben. Es wäre ein eklatanter Wortbruch. Denn sowohl die bisherige Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der neue Bundeskanzler Olaf Scholz wie auch FDP-Chef Christian Lindner hatten alle noch vor wenigen Wochen eine Impfpflicht ausgeschlossen.
Schon jetzt ist die Gesellschaft durch die Pandemiemaßnahmen gespalten. Der Graben verläuft insbesondere zwischen der Mehrheit, die Impfungen befürwortet und einer Minderheit, die sie ablehnt.
Ehrgeizige Klimapläne
Dabei will die neue Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen nach 16 Jahren CDU-geführter Regierungen unter Angela Merkel Aufbruchstimmung verbreiten."Mehr Fortschritt wagen" lautet die Überschrift des Koalitionsvertrags in Anlehnung an SPD-Bundeskanzler Willy Brandts Motto "Mehr Demokratie wagen" 1969. Was die Koalition darunter versteht? Vor allem mehr Klimaschutz durch erneuerbare Energien und möglichst einen vorzeitigen Kohleausstieg schon 2030.
Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb hebt vor allem "die schnelle Einigung" der Ampelkoalition hervor. "Hier waren Teamplayer am Werk, anders als es in der Union im Wahlkampf zu vermelden war. Eine gewisse Aufbruchstimmung ist also durchaus zu verzeichnen."
Was die Menschen von der Politik der Ampel-Regierung halten, dürfte sich unter anderem in vier Landtagswahlen im kommenden Jahr zeigen, im Frühjahr im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und im Herbst in Niedersachsen. Nach bisherigen Umfragen würde sich dabei der jüngste Aufstieg der Sozialdemokraten nach einem langen Niedergang fortsetzen.
Rückt die CDU nach rechts?
Anfang des neuen Jahres hofft unterdessen die schwer angeschlagene Bundes-CDU, durch ihren neuen Parteivorsitzenden Friedrich Merz Auftrieb zu bekommen. Seine Wahl gilt als Richtungsentscheidung. Der frühere Unions-Fraktionsvorsitzende hatte sich mit seiner inzwischen dritten Bewerbung durchgesetzt. Es wird erwartet, dass sich die CDU unter seiner Leitung nach rechts bewegt, weg vom Kurs der Mitte, den Angela Merkel verkörperte. Merz sei aber "eher Solist" in der Partei, glaubt der Politikwissenschaftler Hartleb, und "wird keinen Neuanfang herbeizaubern".
Kontinuität ist in jedem Fall im Februar bei der Besetzung des höchsten Staatsamts zu erwarten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von der SPD würde gern weitermachen. Und seine Chancen stehen gut. Bislang gibt es keinen weiteren Bewerber, und die Ampel-Parteien haben eine Mehrheit in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt.
Herausforderungen China und Russland
Außenpolitisch kann Deutschland im Jahr 2022 vor allem durch seinen G7-Vorsitz glänzen. Das heißt, glänzen ist in einer Zeit sich verschärfender Krisen wohl ein unpassendes Wort: Russische Aggression gegenüber der Ukraine und ein weltpolitisch zunehmend auftrumpfendes China sind nur zwei große außenpolitische Herausforderungen.
Die neue Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen hat in einem Interview mit der "Tageszeitung" in Anspielung auf Merkels China-Politik eine Wende angedeutet: "Beredtes Schweigen ist auf Dauer keine Form von Diplomatie." Sie will eine wertebasierte Außenpolitik betreiben und Menschenrechtsfragen in totalitären Staaten mehr zur Sprache bringen.
Bundeskanzler Olaf Scholz dagegen scheint die zurückhaltende Außenpolitik seiner Vorgängerin fortsetzen zu wollen und hat klargestellt, dass er das Feld nicht ganz seiner Außenministerin überlassen wird: "Es muss ein Miteinander in der Welt stattfinden, auch mit Regierungen, die ganz anders sind als die unsere", sagte er kurz nach seiner Vereidigung im ZDF.
Interessant wird in diesem Zusammenhang sein, ob sich die neue Bundesregierung an die Seite von US-Präsident Joseph Biden stellen und in eine stärkere Konfrontation mit China treiben lässt.
Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik rät in Bezug auf Russland, "die Gaspipeline Nord Stream 2 als Druckmittel gegenüber Moskau einzusetzen: bei einer Aggression gegen die Ukraine keine Inbetriebnahme." In der China-Politik müsse Deutschland "weg von der unnötig ängstlichen Behauptung, ohne chinesischen Markt hätte Deutschlands Industrie keine Zukunft, hin zu einer viel stärker strategischeren Politik, die sich mit Chinas Systemrivalität auseinandersetzt".
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle sagt dagegen voraus, Baerbock werde "bald die Zwänge des Amtes und den Druck der Realpolitik spüren. Dies sehe ich insbesondere bei der Frage, ob man wirklich Menschenrechte als obersten Maßstab für außenpolitisches Handeln nehmen kann."
Ziel: ein europäischer Bundesstaat
In der Europapolitik spricht der Koalitionsvertrag vom Fernziel der EU als eines "europäischen Bundesstaats". So hochfliegende Ideen hat man in der EU lange nicht mehr gehört. Gleichzeitig tritt die Berliner Koalition für eine vergleichsweise liberale Asyl- und Flüchtlingspolitik ein, auch auf europäischer Ebene.
Wie heiß beide Eisen sind, wurde bereits Ende des alten Jahres in den beiden EU-Ländern deutlich, die für die Bundesregierung besonders wichtig sind, in Frankreich und Polen. Jaroslaw Kaczynski, der Chef der polnischen Regierungspartei PiS, sagte, die Politik der neuen Bundesregierung gefährde die Souveränität der europäischen Länder. Dies komme einem Abrücken auf den Verzicht auf hegemoniale Ansprüche gleich.
In Frankreich ist die Reaktion nicht nur wegen der engen Partnerschaft mit Deutschland wichtig, sondern auch, weil im kommenden Frühjahr Präsidentschaftswahlen stattfinden. Wichtigstes Thema dabei ist der Kampf gegen ungewollte Einwanderung. Präsident Emmanuel Macron will die französische EU-Ratspräsidentschaft im kommenden halben Jahr nutzen, um die EU-Außengrenzen zu sichern, was für die Berliner Koalition keine Priorität hat. Und ausgerechnet der Konservative und frühere EU-Kommissar Michel Barnier hat im französischen Wahlkampf gefordert, Frankreich müsse "die Souveränität in allen Migrationsfragen" zurückholen und sich dazu die entsprechenden Gesetze "nicht länger vom EU-Gerichtshof und von der Europäischen Menschenrechtskonvention diktieren lassen".
Auch hier gehen die Meinungen der beiden Außenpolitikexperten auseinander: Hoff hält die "europapolitischen Ambitionen" der Bundesregierung nicht nur für richtig, sondern auch für notwendig: "Die EU, will sie 'souveräner' werden – und das muss sie, wenn sie Bestand haben will –, wird nicht umhin kommen, sich auch strukturell weiterzuentwickeln." Varwick meint dagegen zum Ziel eines europäischen Bundesstaats im Koalitionsvertrag: "Das wird schnell an den europapolitischen Realitäten scheitern. Eigentlich niemand in Europa will das." Stattdessen lobt er den Begriff der "dienenden Führung" in Bezug auf die Europapolitik im Koalitionsvertrag. "Denn darum geht es: das deutsche Gewicht so einbringen, dass es keine Abwehrreflexe auslöst, sondern Gestaltungsspielraum eröffnet."
Merkels große Fußstapfen
Auf der globalen diplomatischen Bühne hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine sehr wichtige und in der Europapolitik sogar eine absolute Führungsrolle. Wird Olaf Scholz in ihre Fußstapfen treten wollen und können?
Henning Hoff bescheinigt Scholz an wichtigen Führungsqualitäten "Umsicht und einen lösungsorientierten Pragmatismus". Johannes Varwick meint zwar: "Natürlich kann es niemand mit der Erfahrung einer Angela Merkel aufnehmen." Das deutsche politische Gewicht sei aber groß, ganz unabhängig von der Person des Kanzlers. Und Olaf Scholz sei "mit seiner unprätentiösen, ausgleichenden Art so etwas wie ein geborener Nachfolger der ewigen Kanzlerin".