Aufbruch aus der Nische?
14. Januar 2002Achtungserfolge jenseits des Buchmarktes
Dass fast jeder zehnte Leser gelegentlich Gedichte zur Hand nimmt, liegt an einigen wenigen Autoren wie Robert Gernhardt oder dem Büchner-Preisträger Durs Grünbein, vor allem aber an Anthologien mit klassischen Autoren, die zunehmend beliebter werden und zum Teil Auflagen von weit über 50.000 Exemplaren erreichen. Mehr als solche Achtungserfolge feiert die Lyrik allerdings jenseits des Buchmarktes: Gedichte, auch zeitgenössische, prangen von öffentlichen Plakatwänden, sind in U-Bahnen und sogar auf Zuckertüten zu lesen.
Fernsehen und Rundfunk sendeten am 21. März, dem von der UNESCO im Jahr 2000 ausgerufenen "Welttag der Poesie", mehrstündige Gedichtlesungen. Und zum alljährlichen Festival "Weltklang - Nacht der Poesie" auf dem Potsdamer Platz in Berlin kamen mehrere tausend Menschen. Nach Ansicht von Thomas Wohlfahrt von der Literaturwerkstatt, die dieses Ereignis veranstaltet, kommt die geschilderte Entwicklung nicht überraschend. "Die Tradition des mündlichen Vortrags, die in Deutschland lange abgebrochen war, kommt wieder ins Bewusstsein", meint er. Das verschaffe der Lyrik, die wesentlich durch Klang und Rhythmus bestimmt sei, einen Aufschwung - allerdings nicht auf dem Buchmarkt.
Lyrik als Live-Veranstaltung
"Wir befinden uns in einem medialen Wechsel vom Buch zur Live-Veranstaltung und zur CD", sagt Wohlfahrt. Die Zahlen des Münchner Hörverlags untermauern seine These: Mit fünf Prozent Lyrik im Programm erwirtschaftet das Unternehmen acht Prozent seines Umsatzes. Das lyrische Highlight des Verlags, die Anthologie "The Spoken Arts Treasury" mit den Originalstimmen amerikanischer Dichter von Sylvia Plath bis Allen Ginsberg, wurde zum "Hörbuch des Jahres 2001" gewählt. Ebenfalls auf den Klangaspekt von Gedichten setzt das Internetprojekt der Berliner Literaturwerkstatt. Seit November 1999 sind dort Gedichte klassischer und zeitgenössischer Autoren zu hören. Für die kommenden Jahre ist geplant, dieses Portal zu einer von einer "multilinguale Audiobibliothek" auszubauen.
Doch auch auf dem traditionellen Buchmarkt feiert die Poesie überraschende Erfolge. Der Dichter Anton G. Leitner schreibt mit seinem Kleinverlag für zeitgenössische Lyrik schwarze Zahlen - und das ganz ohne Fördermittel und Mäzene im Hintergrund. Die seit 1993 von ihm herausgegebene Zeitschrift "Das Gedicht" ist inzwischen mit bis zu 10.000 verkauften Exemplaren das auflagenstärkste Lyrikmagazin in Deutschland. Leitner ist dabei, ein "Netzwerk für Lyrikinteressierte" zu schaffen und bietet deshalb auch praxisnahe Lyrikwerkstätten und einen Lektoratsservice an. Mehr und mehr Dichter legen ihm ihre noch unveröffentlichten Verse zur Kritik vor.
Der innovative Verleger setzt vor allem auf Jugendliche als neue Zielgruppe. "Lyrik kann auch knackig sein, muss nicht so hehr behandelt werden wie in der Schule", meint er. Dazu passt, dass Leitner freche Anthologien wie "Halb gebissen, halb gehaucht" herausgibt. Klassische erotische Gedichte werden hier mit modernen provokant konfrontiert. Im Internet lädt er dazu ein, ein Kettengedicht zu verfassen. Seinen Zeitschriften legt er witzige Accessoires bei, selbst Zucker- und Brottüten lässt er mit Gedichten bedrucken.