Leben im Provisorium
9. Dezember 2012Ein grauer, dreistöckiger Kasten - so sieht das neue Zuhause aus. An einer viel befahrenen Kreuzung in Grünau, im Südosten Berlins, steht der Plattenbau, in dem jetzt 90 Menschen wohnen. Als Polizeipräsidium mit vielen Büros wurde der Kasten einst gebaut, nun ist er Notunterkunft für in Berlin gestrandete Flüchtlinge.Michael Grunewald, ein resoluter 47-Jähriger, leitet das Heim. Er öffnet die Tür zu einem der Zimmer im Erdgeschoss. Sechs Feldbetten stehen darin und ein Tisch. An den Fenstern hängen Lamellenvorhänge, das Waschbecken an der Wand ist nicht funktionstüchtig. Fürs Erste muss das genügen. "Immerhin haben wir es geschafft, eine Etage des Hauses schon komplett neu zu möblieren, Betten, Schränke, Tische und Stühle in die Zimmer zu stellen", sagt Michael Grunewald. Seine Aufgabe ist, was eigentlich gar nicht zu schaffen ist: In kürzester Zeit aus ehemaligen Büros bewohnbare Zimmer zu machen.
Die Zahl der Asylbewerber steigt
Dass die Flüchtlinge in solchen Notunterkünften leben müssen, liegt daran, dass immer mehr nach Deutschland kommen - das jedenfalls sagen die Berliner Behörden. "Wir haben seit dem Jahr 2010 schon einige zusätzliche Plätze geschaffen, aber es reicht eben nicht, um alle Neuankömmlinge unterzubringen", sagt Franz Allert, Leiter des Landesamts für Soziales und Gesundheit. Besonders jetzt im Winter dränge die Zeit.Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die Asyl beantragen, in 2012 gestiegen: 9950 Anträge gingen im Oktober beim zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein, das sind knapp 50 Prozent mehr als noch im Vormonat. Diesen Trend erlebt auch Berlin: Kamen im gesamten Jahr 2011 rund 2300 Flüchtlinge nach Berlin waren es in diesem Jahr allein bis Ende Oktober schon rund 2850. "Berlin ist eine beliebte Stadt, auch bei Flüchtlingen", sagt Franz Allert. "Eine urbane Umgebung ist nun einmal attraktiver, als auf dem Land zu leben."
Nun setzt die Stadt auf Notunterkünfte. Dafür nutzt sie leer stehende Schulen, Krankenhäuser - oder eben Polizeipräsidien, wie in Grünau.
Heimleiter mit offenem Ohr
Dort teilen sich die 90 Bewohner vier Duschen. Michael Grunewald, der Heimleiter, will dafür sorgen, dass es bald mehr sanitäre Anlagen gibt. Viel wichtiger aber sei es, ein offenes Ohr zu haben für die Belange der Flüchtlinge: "Wenn sie zum Beispiel einen speziellen Arzt brauchen, dann machen wir die Termine und erklären, mit welcher Bahn sie bis zu welcher Station fahren müssen", sagt Grunewald.
Die Bewohner schätzen Grunewalds Engagement. "Michael ist mein Freund", erzählt ein Flüchtling. Seit einem Monat lebt er in der Grünauer Notunterkunft, seine Frau hatte eine Frühgeburt, das Baby liegt im Krankenhaus.Auf den Fluren hört man afrikanische Sprachen und arabisch, vor allem aber: bosnisch und serbisch. Der Anteil der Flüchtlinge, die aus den Balkanländern nach Deutschland kommen, ist in die Höhe geschnellt, obwohl diese Menschen kaum Aussicht auf Asyl haben. Die deutschen Behörden betrachten sie als Wirtschaftsflüchtlinge. Im Oktober haben die Behörden keinem einzigen serbischen Flüchtling Asyl gewährt.
Schulbesuch? Nicht realisierbar
Es gibt wenig zu tun in der Notunterkunft, die Hauptbeschäftigung der Bewohner ist das Warten. Sie warten auf den Bescheid der Behörden, die festlegen, ob sie sofort abgeschoben oder vorerst in Deutschland bleiben können. Dann würden sie in dauerhafte Asylbewerberheime umziehen. Bis zu sechs Wochen kann es dauern, bis der Bescheid kommt, das ist vor allem für die 40 Kinder in Grünau belastend. "Eigentlich müssten sie in die Schule gehen, weil es in Deutschland eine Schulpflicht gibt. Aber das ist organisatorisch gar nicht machbar. Wenn die Kinder zwischen einem Tag und sechs Wochen bleiben - wo sollen wir da jemanden anmelden? Da drehen die Schulen ja durch", sagt Grunewald.Der Heimleiter fühlt sich oft wie ein Verwalter des Mangels. Er ist dankbar für jede Spende. Babywannen, Winterkleidung für die Kinder - all das geben Berliner regelmäßig bei ihm ab.
Bis Ende März soll Grunewald die Notunterkunft noch leiten. Bis dahin wollen die Berliner Behörden genug Plätze in dauerhaften Heimen eingerichtet haben. Das Leben in Provisorien soll dann ein Ende haben.