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Politik

Auf die Preise kommt es an

5. Dezember 2016

Wer wissen will, wer in Deutschland arm ist, sollte sich nicht nur das Einkommen, sondern auch die Kaufkraft ansehen, meint das Institut der deutschen Wirtschaft. Plötzlich ist Armut in Deutschland ganz anders verteilt.

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Deutschland Armuts- und Reichtumsbericht
Bild: picture alliance/dpa/S. Pilick

Es bleibt jedem Menschen unbenommen, sich arm zu fühlen. Doch Armut wird auch behördlich genau definiert. Wer in Deutschland weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, ist demnach arm. Oder um es genau zu sagen: Wer monatlich 917 Euro oder mehr sein eigen nennt, ist offiziell nicht mehr arm. Der Haken ist nur: In München kann man sich mit 917 Euro viel weniger kaufen als in einem emsländischen Dorf. Das fängt bei den Mieten an, dem bei den meisten größten Ausgabenposten, geht aber weiter mit Lebensmitteln und hört irgendwo beim Museums- oder Friseurbesuch auf. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat deswegen den Ausdruck "Kaufkraftarmut" ins Spiel gebracht. Wer weniger als 60 Prozent der durchschnittlichen Kaufkraft hat, ist danach arm, "kaufkraftarm". In einer neuen Studie hat das IW Armut in Deutschland nach diesem Kriterium untersucht.

Infografik Armut in Deutschland 2014
Große Unterschiede, ob man nur das Einkommen berücksichtigt (links) oder auch die Kaufkraft (rechts)

Abgehängte Ruhrgebietsstädte

Die vielleicht überraschendste Erkenntnis: Es gibt dann kaum noch ein Ost-West-Gefälle wie bei Untersuchungen allein nach Einkommen. Sondern, so Mitautor Christoph Schröder gegenüber der DW: "Die Problemgebiete liegen eher in den Städten als in Ostdeutschland." Das IW hat neben dem traditionellen Einkommensatlas der Bundesrepublik einen "Atlas der Kaufkraftarmut" erstellt. Beide Karten weichen an vielen Stellen stark voneinander ab.

Die östlichen Bundesländer Thüringen, Brandenburg und Sachsen zum Beispiel liegen bei der Kaufkraftarmut unter dem deutschen Durchschnitt, auch wenn ihre Bewohner relativ wenig verdienen. Problemgebiete dagegen sind ausnahmslos Städte - und davon vor allem westdeutsche Großstädte. Gelsenkirchen hat eine Kaufkraftarmutsquote von 28,4 Prozent, Köln von 26,2 Prozent. Selbst Düsseldorf und Aachen, nicht gerade als Orte des Elends bekannt, haben Quoten von rund 23 Prozent an Menschen, die nach diesem Kriterium als arm gelten. Am besten schneidet ein ländlicher Kreis am Bodensee ab, mit nur 8,6 Prozent der Bevölkerung, die weniger als 60 Prozent der durchschnittlichen Kaufkraft haben.

"Man lässt sich manchmal von den schönen Geschäften in den Innenstädten blenden," meint IW-Autor Christoph Schröder. Reiche Einwohner treiben Preise hoch, sorgen für ein schillerndes Angebot, aber oft bleibt ein hoher Anteil von Menschen davon ausgeschlossen.

Doch wem genau in den Städten geht es schlecht? Auch das hat die Studie untersucht und vor allem drei Gruppen ausgemacht, die besonders häufig von Kaufkraftarmut betroffen sind. Dass gerade sie bei den höheren Preisen in den Städten und vor allem den Mieten kaum mithalten können, verwundert nicht: Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende. "Diese Gruppen sind in den Städten häufiger anzutreffen als auf dem Land", sagt Schröder und fügt hinzu: "Die Bevölkerungsstruktur erklärt etwa die Hälfte des Stadt-Land-Gefälles bei der Armutsgefährdung."

Infografik Armut in Deutschland 2014
Probleme vor allem in Bremen und in nordrhein-westfälischen Großstädten

"Den armutsgefährdeten Gruppen helfen"

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass diese Gruppen besonders häufig in Städten leben, ist schon ein großer Teil des Problems. Doch Arbeitslose haben vielleicht schon vorher in einer Großstadt gelebt und hoffen in der Stadt auf neue Arbeit, Migranten kennen andere Migranten ebenso eher in den Städten und haben dort eine bessere Infrastruktur für sich und Alleinerziehende finden in der Stadt eher einen Kita-Platz als auf dem Land. Es gibt also gute Gründe, warum es sie alle in die Städte zieht.

Die Autoren empfehlen deswegen auch nicht, dass Armutsgefährdete aufs Land ziehen, das wäre realitätsfremd. Christoph Schröder rät der Politik als Lösung, "den armutsgefährdeten Gruppen zu helfen". Der Staat solle mehr in Bildungs- und Weiterbildungsangebote investieren, Ganztagseinrichtungen fördern, ebenso den Wohnungsbau in den Städten, um den Druck von den Mieten zu nehmen. Daneben meinen die Autoren, die deutsche und die europäische Regionalförderung sei bisher zu stark auf Ostdeutschland konzentriert gewesen. In Zukunft müsse der Staat eine Anti-Armutspolitik betreiben und dann nicht nach Himmelsrichtung helfen, sondern nach Bedarf. Und das sei eben eine Sache nicht der Einkommens-, sondern der Kaufkraftarmut.