Anschlag auf indischen Nachtexpress
28. Mai 2010Die indische Bahn war gewarnt, seit Tagen hatten Extremisten mit Anschlägen gedroht. Am Freitag (28.05.2010) brachte anscheinend eine von maoistischen Rebellen unterstützte Gruppe mitten in der Nacht einen Schnellzug mit Hunderten Passagieren zum Entgleisen. Dies erklärte die Polizei gegenüber Medienvertretern. Die Zahl der Opfer könne noch weiter steigen, sagte ein Minister des indischen Bundesstaates Westbengalen, in dem das Unglück passierte. Nach Angaben der Eisenbahngesellschaft waren 13 Waggons des Expresszuges nach Mumbai im Gleisbett aus den Schienen gesprungen. Fünf Waggons seien auf ein anderes Gleis gestürzt und dort von einem Güterzug erfasst worden, berichtete die Nachrichtenagentur PTI. Eine von den maoistischen Rebellen unterstützte Gruppe bekannte sich nach Angaben der Agentur in einem Telefonat zu dem Anschlag.
Chaos und Panik am Unglücksort
Spezialisten grübeln bislang noch, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Unklar ist, ob der verunglückte Gyaneshwari Express auf dem Weg von Kalkutta durch eine Bombe aus den Schienen gerissen wurde oder ob die Gleise manipuliert worden waren. Am Unglücksort herrschten Chaos und Panik, berichteten Reporter. Rettungskräfte arbeiteten mit Hochdruck daran, weitere Überlebende aus den verkeilten Waggons zu ziehen. "Ich kann überall Leichenteile sehen, sie hängen aus den Abteilen und liegen unter den Rädern", beschrieb ein Journalist die Szenerie.
Die Region ist eine Hochburg maoistischer Rebellen, die sich nach eigenen Angaben für die Belange benachteiligter Bevölkerungsschichten und landloser Bauern einsetzen. Eisenbahnministerin Mamata Banerjee wurde im Sender NDTV mit den Worten zitiert, die Maoisten hätten die Tage vom 28. bis zum 31. Mai zu Schwarzen Tagen erklärt. Die Bahn habe daraufhin die Sicherheitsmaßnahmen an dem indischen Schienennetz, das zu den längsten der Welt gehört, erhöht. So sei auch die Strecke des Expresszugs erst eine Stunde vor dem Anschlag überprüft worden. Mit den noch in den Gleisen stehenden Waggons des Zuges seien die überlebenden Passagiere - darunter viele Verletzte - in die Stadt Kharagpur gebracht worden, meldete der Sender NDTV. Zudem wurden Armeehubschrauber eingesetzt, um Verletzte in umliegende Krankenhäuser zu bringen.
Singh hält Maoisten für große Bedrohung
Für den indischen Ministerpräsident Manmohan Singh ist klar: Die Linksextremisten sind in den vergangenen Jahren zur größten Bedrohung für Indiens innere Sicherheit geworden. Die Ursprünge der Rebellen können bis 1967 zurückverfolgt werden, als indische Sicherheitskräfte in dem entlegenen Dorf Naxalbari in Westbengalen einen Aufstand gewaltsam niederschlug. Die Rebellen werden deshalb von Experten auch als "Naxaliten" bezeichnet. Sie breiteten sich in den vergangenen Jahren in Indien stetig aus und sind mittlerweile in 20 der 29 indischen Bundesstaaten aktiv. Etwa 10.000 bis 20.000 Rebellen sind in zahlreichen Untergruppen organisiert. Dabei agieren sie vorzugsweise von Dschungelcamps aus, wo terroristische Kämpfer im Umgang mit Waffen und auch ideologisch geschult werden.
Die Rebellen finanzieren sich nach Expertenangaben hauptsächlich durch Entführungen, Erpressung und Plünderungen. In manchen indischen Gegenden bilden sie laut Nachrichtenagentur AFP inoffizielle Regierungen, die sogar Steuern eintreiben. Ziele ihrer Anschläge sind vor allem Polizeipatrouillen, angebliche Informanten der staatlichen Sicherheitskräfte, Eisenbahnschienen, Schulen und Regierungsgebäude. Nach Angaben des indischen Innenministeriums töteten die Rebellen seit 2005 mehr als 1200 Sicherheitskräfte und etwa 2600 Zivilisten. Dabei machen sie auch keinen Halt vor indischen Politikern: 2007 töteten sie einen Abgeordneten des Nationalparlaments und organisierten den Ausbruch von etwa 300 ihrer Kämpfer aus einem indischen Gefängnis. Ein Schiff mit Eliteeinheiten an Bord versenkten sie 2008. Ein Jahr später nahmen sie vorübergehend 300 Insassen eines Zuges als Geiseln. Im April 2010 starben beim bislang schwersten Anschlag der Rebellen 76 Polizisten. Die indische Regierung startete im November vergangenen Jahres eine Offensive gegen die maoistischen Rebellen, bislang mit wenig Erfolg.
Autor: Marcus Bölz (afp,dpa,apn)
Redaktion: Hajo Felten